Medientagebuch: «Wir sind keine Soldaten»
Roman Berger zum Informationskrieg um die Ukraine
«Die TV-Nachrichtensendungen widern mich an. Über politische Ereignisse in Russland wird kaum mehr berichtet. Die Sendezeit füllen Nachrichten zur Ukraine – meist in bizarrer Verzerrung.» Das Urteil des Chefredaktors einer kleinen unabhängigen Moskauer Tageszeitung spricht für sich.
Was aber sagt die russische Bevölkerung, die zu gut achtzig Prozent ihre Nachrichten weiterhin nur über das staatlich kontrollierte Fernsehen bezieht? Auf entsprechende Fragen erhielt das unabhängige russische Forschungszentrum Lewada folgende Antworten: 59 Prozent der Befragten glauben der Propaganda. Sie bilden den harten Kern von Präsident Putins Klientel. 13 Prozent glauben, die TV-Nachrichten seien Propaganda, und zwar notwendige Gegenpropaganda, denn Russland befinde sich in einem «Informationskrieg». 11 Prozent hingegen lehnen die Propagandastrategie des Kreml als «schädlich und gefährlich» ab.
Widerstand gegen die mediale Kriegspropaganda regt sich auch bei russischen JournalistInnen. An einer Tagung der Europäischen Journalistenföderation (EJF), die ihre Jahresversammlung zum Thema «Journalismus in Zeiten von Konflikten» in Moskau abhielt, distanzierte sich die Russische Journalistengewerkschaft (RUJ) vom Informationskrieg: «Journalisten sind keine Soldaten.» Die zu Sowjetzeiten vom Staat abhängige Gewerkschaft hat sich emanzipiert, sie kritisiert «das rasche Schrumpfen der Medienfreiheit in Russland» scharf.
Auf Initiative der Schweizer Mediengewerkschaft Syndicom wurde in Moskau eine Motion verabschiedet, die die mediale Kriegspropaganda in Russland und in der Ukraine verurteilt. Von der Desinformation über den Ukrainekonflikt sind alle Medien in der übrigen Welt betroffen.
Im gleichen Gebäude wie die RUJ befindet sich in Moskau auch die Redaktion des TV-Senders Russia Today, der im Auftrag des Kreml Russlands Image im Ausland verbessern soll. Der Sender strahlt mit einem stark ausgebauten Budget neu auch auf Deutsch und Französisch aus. Dank eines Kontakts aus dem Moskau der neunziger Jahre – es waren die Zeiten von Glasnost (Meinungsfreiheit) – hoffte ich bei meinem letzten Besuch in Moskau auf ein Gespräch mit Margarita Simonyan, der Chefredaktorin von Russia Today. Ich hätte ihr gerne Fragen gestellt wie: Dem Kreml wird vorgeworfen, in der Ukraine mit «hard power» (militärischer Gewalt) zu intervenieren. Glauben Sie, dieses Image mit der «soft power» von Russia Today korrigieren zu können? Oder: Was bedeutet für Sie der Unterschied zwischen Information und Propaganda? Das Gespräch kam nicht zustande, auch auf die schriftlich eingereichten Fragen erhielt ich keine Antwort.
Ebenfalls im gleichen Gebäude am Subowski-Boulevard 4 ist die Menschenrechtsorganisation Schutz von Glasnost einquartiert. Ihr Gründer, Alexei Simonow, korrigiert die Vorstellung, die man im Westen von Michail Gorbatschows Glasnost hat. «Glasnost war in Russland immer nur eine kleine Insel, Glasnost ist nie ein Meer geworden. Bis heute schreien wir einander an. Eine Kultur des Kompromisses haben wir noch nicht gefunden. Es gibt nur Gewinner oder Verlierer.»
Alexei Simonow aber gibt nicht auf. Sein nur wenige Quadratmeter grosses Büro ist voll von Spielzeugschildkröten. Diese symbolisieren für ihn Glasnost: Schildkröten bewegen sich langsam und können dank ihres harten Panzers nicht so schnell erdrückt werden.
WOZ-Mitarbeiter Roman Berger arbeitete viele Jahre als Journalist in Moskau. Er ist Vorstandsmitglied der JournalistInnen in der Gewerkschaft Syndicom.