Vor achtzig Jahren: Die Verlockungen der Demokratie

Nr. 3 –

1935 verabschiedete sich die SP Schweiz von der «Diktatur des Proletariats». Seither wird sie von der Frage umgetrieben, ob man innerhalb der bürgerlichen Demokratie kämpfen und diese zugleich sprengen kann.

Am Schluss gab es eine halbwegs klare Entscheidung. Das neue SP-Parteiprogramm wurde am 27. Januar 1935 vom Parteitag in Luzern mit 57 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Aber das Resultat von 382 Ja gegen 294 Nein offenbarte eine tief gehende Spaltung. Zwei Fragen entzweiten die GenossInnen: der Abschied von der «Diktatur des Proletariats» und die Zustimmung zur militärischen Landesverteidigung.

Wesentlicher Promotor der Änderung war Robert Grimm. 1915 mit Wladimir Iljitsch Lenin bei der Zimmerwalder Linken, dann Führer des Generalstreiks 1918, hatte er das Programm 1920 geprägt, in dem die Diktatur des Proletariats gefordert wurde. Fünfzehn Jahre später wollte er das ganze Kapitel streichen und durch ein Bekenntnis zur Demokratie ersetzen. Dies als Reaktion auf den Aufstieg des Faschismus.

Diktatur des Proletariats: Das Schreckwort bedeutete bei Karl Marx einst die Ablösung der Diktatur des Bürgertums durch die neue revolutionäre Klasse, als Zwischenstufe zur klassenlosen Gesellschaft. Das war eine siegesgewisse sozialhistorische Beschreibung, kein Instrument, auch keine Norm einer neuen Herrschaft. Bei Lenins Bolschewiki wurde das zunehmend gepanzert, als Zwangsmittel zur Erringung und Konsolidierung der Macht.

In seinem SP-Programmentwurf von 1920 differenzierte Robert Grimm, die Diktatur sei nicht Ziel, sondern «Übergangsphase» vom «kapitalistischen Klassenstaat zum sozialistischen Gemeinwesen» und nur als defensives Mittel gedacht, falls sich die Bourgeoisie gegen die demokratische Machtübernahme stelle. Einen Beitritt zu Lenins Dritter Internationale lehnte die Parteibasis aber in zwei Urabstimmungen 1919 und 1921 ab; so verliess die Parteilinke die SP und gründete die Kommunistische Partei der Schweiz.

Ein SP-Arbeitsprogramm von 1924 betonte den Kampf des Proletariats innerhalb des bürgerlichen Staats, und die Frage der Regierungsbeteiligung führte die SPS weiter in die Mitte der Gesellschaft und zum Staat als Hauptmotor der Veränderung. Auf die Weltwirtschaftskrise 1929, die die Schweiz verspätet einholte, reagierten die Gewerkschaften 1934 mit dem «Plan der Arbeit» und einer Kriseninitiative, die eine staatliche Arbeitsmarktpolitik sowie die staatliche Aufsicht von Grossunternehmen forderte.

Noch prägender war das Aufkommen des Faschismus. Italien war längst gefallen, Deutschland folgte 1933, und in der Schweiz witterten rechtsextreme Kreise den Frontenfrühling, für den sich auch bürgerliche Kreise anfällig zeigten. Die gemässigte Mehrheit der Partei sah als Gegenmittel zum Faschismus nur die verstärkte Demokratie, die Zusammenarbeit auch mit bürgerlichen Antifaschisten.

Robert Grimms in der Analyse weiterhin marxistisch angelegtes Programm von 1935 forderte die «Rettung der Demokratie» durch die «Weiterentwicklung von der politischen zur wirtschaftlichen Demokratie», und es wurden Massnahmen – etwa eine Förderung des Genossenschaftswesens – vorgeschlagen zu dem, was durch das jüngste SP-Programm von 2010 als Wirtschaftsdemokratie wieder belebt werden soll. In der kurzlebigen «Richtlinienbewegung» wurde die neue Bündnispolitik erstmals in der Zusammenarbeit mit Gewerbe- und Bauernverbänden erprobt; ab 1943 setzte mit der Einbindung in den Bundesrat eine zunehmende Integration ein.

Die faschistische Bedrohung führte auch zu einem Kurswechsel in der Armeefrage. Dieser war einerseits ein ebenso konsequenter wie pragmatischer Nachvollzug der grundsätzlichen Analyse von der faschistischen Hauptgefahr. Andererseits bedeutete er die schmerzliche Lösung von einer langen antimilitaristischen Tradition. 1932 hatte ein Armeeaufgebot in Genf bei einer Demonstration dreizehn Arbeiter getötet; kaum drei Jahre später sollten sich die Arbeiter in ebendiese Armee einreihen? Die durch das Kriegstrauma verursachte Tabuisierung der Armeefrage wurde erst durch die GSoA-Initiative von 1985 parteiintern aufgebrochen.