Kost und Logis: Wanderlieder
Bettina Dyttrich weiss: Vom Landigeist zum Bohemeleben gehts ganz schnell
Ich kann nicht viel Gutes über ihn sagen. Seine Pädagogik hatte vor allem zwei Komponenten: Drill und Blossstellen. Wer nicht singen konnte, musste vorsingen. Wer sich verzweifelt am Fuss der Kletterstange abmühte, wurde öffentlich ausgelacht («Bratwurstbrät in den Armen!»). Meinen Banknachbarn stiess er mehrmals unter den kalten Wasserhahn und drehte voll auf – der Junge hatte ein bisschen gegähnt. Gröbere Gewalt war eher selten, aber das machte sie umso unberechenbarer. Das alles nicht in den fünfziger Jahren, sondern 1990.
Während des Kriegs war er noch ein Kind gewesen, aber vielleicht machte das die Prägung umso stärker: Er war imprägniert mit Landigeist. Unsere Schulreise führte zur Hohlen Gasse, in Geschichte zeichneten wir Karten der Schlacht von Morgarten: den Engpass, über dem die Eidgenossen lauerten und Baumstämme, Dreck und Felsblöcke auf die Habsburger regnen liessen. Und hier begann mein Schaden.
Die Karten faszinierten mich, auch die Geschichten, die schon die «Höhlenmenschen» und die «Pfahlbauer» als eine Art Ureidgenossen darstellten. Die Orientierungsläufe mochte ich auch sehr. Kinder verzeihen unmöglichen Erwachsenen viel, es geht wohl nicht anders. Wir waren ihm jeden Tag ausgesetzt, wir versuchten, uns gut mit ihm zu stellen. Und weil ich ja sowieso dauernd im Wald steckte, fand ich hier einen Anknüpfungspunkt. Hier und bei den Wanderliedern.
Kürzlich, auf einer Holzbrücke über der Aare, fielen sie mir plötzlich wieder ein. «Auf, du junger Wandersmann», «Wohlauf in Gottes schöne Welt», «Wem Gott will rechte Gunst erweisen», «Lasset uns durch Tal und Wälder schweifen». Im Singen wurden wir richtig gut, der Drill zeigte Wirkung. Zum Glück traf ich den Ton, konnte mich während des Singens in den Texten verlieren, mir die Berge vorstellen, die «glühn wie Edelstein», die Wolken, tagelanges Umherziehen in der Landschaft. Das führte weg vom Drill und vom Landigeist zum Traum von einem Bohemeleben, den ich später in den Gedichten von Rimbaud wiederfand. Im Tal und in den Wäldern kann man eben auch pazifistisch oder anarchistisch oder zur Kifferin werden. Oder sozialistisch, wie die Naturfreunde einmal waren; die Natur gehört zum Glück nicht den Rechten.
Heute singe ich beim Umherziehen nur noch selten. Aber oft läuft mir im Kopf ein Lied nach, häufig eine von Manuel Stahlbergers klugen und absurden Geschichten. Sind das vielleicht die neuen Wanderlieder? «Wanderwätter» jedenfalls ist das Gegenteil, ein Antiwanderlied, das von A bis Z aufzählt, warum es zu Hause besser ist («Pizol findi hohl»). Aber es muss ja nicht unbedingt vom Wandern handeln. Sehr gerne singe ich «Baggervermietig»: «S hät gäli Bägger und roti, und es git Verletzti und Toti.»
Bettina Dyttrich ist Inlandredaktorin der WOZ.