Französische Intellektuelle: Der «Krieg» und die Republik

Nr. 6 –

Wo sind die französischen Intellektuellen in Zeiten der Krise? Nun, sie lassen von sich hören. Das öffentliche Engagement scheint nicht überholt.

Die Schockwelle von Trauer und Wut, von Angst und Schrecken, die die Attentate des 7. Januar ausgelöst haben, ist auch vier Wochen danach in Frankreich kaum verebbt. Solche Gewaltakte erschüttern jede Gesellschaft, und sie wirken in zweifacher Weise. Sie lösen konkrete Reaktionen aus, von individuellen Ängsten bis zur Aufrüstung des staatlichen Sicherheitsapparats, und sie wirken als Katalysator. Unerbittlich legen sie strukturelle Probleme der Gesellschaft offen, rücken übersehene oder verdrängte gesellschaftliche Spannungen und Gegensätze ins Bewusstsein. Wahrnehmungen und Sprachgewohnheiten verändern sich, soziale Unsicherheit und kulturelle Ungewissheit machen sich breit.

In solchen Situationen wird in Frankreich stets der Ruf nach den Intellektuellen laut. Mit «Intellectuels, l’heure du réveil a sonné» überschrieben zwei Wissenschaftlerinnen in der Ausgabe von «Le Monde» vom 11. Januar ihren Appell zur Mobilisierung der Öffentlichkeit. Sie knüpften damit an eine französische Tradition an. Im 20. Jahrhundert waren die «intellectuels» stets präsent gewesen, wenn das Land in Staatskrisen geriet – zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs und der Volksfront 1936 bis 1939, in den Jahren von Résistance und Libération, im Algerienkrieg 1954 bis 1962 oder in der Revolte vom Mai 1968.

Auch nach dem 7. Januar meldeten sich zahlreiche Intellektuelle zu Wort. Manche kleideten ihre Wortmeldungen in eine Kriegsrhetorik. Andere bemühten sich um die «Republik», sei es als Aufforderung, deren universelle Werte endlich in der und für die ganze Gesellschaft zu verankern, sei es als Hinweis auf die Grenzen gerade dieser Grundwerte. Solche Interventionen geschehen allerdings in einer veränderten Mediensituation. Und sie müssen sich gegen die in den letzten Jahren aufgekommene Figur der ExpertInnen behaupten.

«J’accuse»

Der «Intellektuelle» verdankt sich einer krisenhaften Zuspitzung sozialer und politischer Konflikte am Ende des 19. Jahrhunderts. Als sich die skandalöse Verurteilung des jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus wegen «Hochverrat» zu einer schweren Gesellschafts- und Staatskrise ausweitete, trugen einige beherzte Persönlichkeiten, unter ihnen der Schriftsteller Émile Zola, entscheidend dazu bei, die noch junge Republik vor Staatsstreich und Bürgerkrieg zu bewahren. Auf sie münzte der Leitartikler der Pariser Tageszeitung «L’Aurore», Georges Clémenceau, das Wort «intellectuel». Er veröffentlichte in der Ausgabe vom 13. Januar 1898 unter dem Titel «J’accuse» einen offenen Brief Zolas an den Staatspräsidenten.

In den folgenden Tagen und Wochen unterschrieben Tausende die Forderung des berühmten Autors nach einem Revisionsverfahren, darunter zahlreiche Schriftstellerinnen, Historiker und Soziologen, aber auch Medizinerinnen, Chemiker und Biologinnen. In diesem historischen Moment der noch jungen Dritten Republik, als sich politische Instabilität, militant antisemitischer Rassismus, Korruptionsaffären und ein aggressiver Nationalismus zu einem explosiven Gemenge vermischten, etablierte sich der Intellektuelle im Getümmel gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und politischer Konflikte als eine Figur, die ihre Aura bis heute nicht verloren hat.

Diese Figur meint ein gesellschaftlich-kulturelles und darum historisch wandelbares Konstrukt, die Personifizierung von Merkmalen und Verhaltensanforderungen, einen Habitus, der zwar individuell variabel, im Kern aber durch feste Erwartungen definiert ist. Damals gaben drei Hauptmerkmale der Figur ihr Profil.

Die Medienprofis

Da war erstens die unbestrittene literarische oder wissenschaftliche Kompetenz der «intellectuels». So nutzten die SchriftstellerInnen rhetorisch wirksame Stilmittel für Reden, Aufrufe und Zeitungsartikel. Die WissenschaftlerInnen ihrerseits griffen zum methodischen Instrumentarium ihrer Disziplinen, zum Beispiel die HistorikerInnen der École des chartes, die mit Schriftanalysen die Fälschungen des Geheimdiensts entlarvten. Indem sie ihren spezifischen Sachverstand und ihr symbolisches Kapital politisch nutzten, mutierten die Schriftstellerinnen und Wissenschaftler zu «intellectuels». Der Direktor des Institut Pasteur, Émile Duclaux, und der Soziologe Émile Durkheim begründeten beide ihr politisches Engagement explizit mit ihrem aufklärerischen Wissenschaftsverständnis. Es war ein Schritt, der Zivilcourage verlangte und mit persönlichen Risiken behaftet war. Zola selbst wurde wegen Hochverrat angeklagt, verurteilt und floh nach England ins Exil.

Was die «intellectuels» weiter auszeichnete, war die strategische Einsicht, man müsse die Medien der Zeit nutzen. Damals war das die Tagespresse. Der Abdruck von «J’accuse» trieb die Auflage von «L’Aurore» auf über 200 000 Exemplare und hielt sie wochenlang auf über 150 000, bevor sie wieder auf ihre normale Höhe von unter 30 000 zurückging. Keine Regierung und kein Gericht konnte die politische Mobilisierung übersehen, die damit in Gang kam, kein Zeitungsbesitzer die wirtschaftlichen Vorteile ausser Acht lassen, die sich da boten. Zola und die «dreyfusards» waren Medienprofis, was auch später das Selbstverständnis der Intellektuellen prägte, wie die Gründungen der Tageszeitung «Libération» (1973) oder der Zeitschriften «L’Esprit» (1932), «Les Temps modernes» (1945), «Le Débat» (1980) und anderer zeigen.

Das dritte Merkmal betrifft die kulturelle Ausstrahlung und die politische Wirkung der Intellektuellen. Stets hatten sie die Nation als ganze im Auge, nicht einzelne Schichten oder Interessengruppen, ihre Mission galt der «Republik». Doch die Adressaten ihrer Interventionen waren die politischen und kulturellen Eliten des Landes. Im 20. Jahrhundert entsprachen André Gide, Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre, Raymond Aron, Michel Foucault und Pierre Bourdieu exemplarisch diesem Bild.

Dass die Intellektuellenfigur noch immer als Referenz dient, gehört zu den Paradoxien, an denen die Geschichte Frankreichs reich ist. Denn die spezifischen Umstände ihrer Geburtsstunde bestehen nicht mehr. Ausserdem haben neue Medien neue Formen der Intervention ebenso nötig gemacht wie ermöglicht, etwa durch Filmemacher wie Marcel Ophüls oder Claude Lanzmann, die in den sechziger und siebziger Jahren einen neuen Typ von Dokumentarfilm schufen und mit ihren Filmen wichtige Debatten anstiessen. Oder durch Zeichner wie Jacques Tardi, der sich in seinen bitter-kritischen Comics den Aufstand der Commune von 1871 oder die Kriege des 20. Jahrhunderts vornahm. Am stärksten aber machte den klassischen Intellektuellen in den letzten Jahrzehnten die Expertenfigur das Feld streitig, die als Liebling der heutigen Medien kontinuierlich an Raum und Einfluss gewann. Der «Experte», die «Expertin» beansprucht eine scheinbar neutrale Sachkompetenz, verzichtet auf den kritisch intervenierenden Blick aufs Ganze und verweigert das politische Engagement.

Auf die Ereignisse des 7. Januar reagierten einige Intellektuelle sogleich mit fundierten Beiträgen in der «Libération» und in «Le Monde», so der Philosoph Étienne Balibar, der Islamwissenschaftler Olivier Roy, der Orientalist Gilles Kepel, die Medienwissenschaftlerin Nelly Quemener. Sie mahnten zum Umdenken und zur Differenzierung; man müsse endlich das politische Gewicht der muslimischen Bevölkerung anerkennen, ohne sie aber als homogenen Block des fremden Anderen zu betrachten. Es waren Plädoyers für eine ebenso entschiedene wie differenzierte Diskussion, in der genau zu beachten sei, wer in welchem Kontext wie spreche. In den folgenden Tagen meldeten sich zahlreiche weitere Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Literatur zu Wort.

Einige von ihnen rücken die Attentate kurzerhand in den Kontext von «Krieg». Das Land befinde sich im Kriegszustand, so der (selbst mit Ermordung bedrohte) algerische Schriftsteller Kamel Daoud (in «L’Obs», früher «Le Nouvel Observateur»), der Irakspezialist Pierre-Jean Luizard (in «Le Monde») oder der Philosoph Pascal Bruckner (in der NZZ). Doch um was für einen Krieg handelt es sich? «Um den ersten Bürgerkrieg in einer multikulturellen Gesellschaft», behauptet der Politologe und Schriftsteller Omar Saghi (in «L’Obs»). Wer «Krieg» sagt, imaginiert oder benennt Feinde. Aber die Konturen des Feindbilds bleiben unscharf. Nach dem Krieg gegen die Terroristen werde ein anderer geführt werden müssen, mahnt Schriftsteller Jean-Marie Gustave Le Clézio vage, nämlich «gegen Ungerechtigkeit, die Vernachlässigung gewisser Jugendlicher, das taktische Vergessen eines ganzen Bevölkerungsteils» (in «Le Monde»). Dass der schnelle Griff nach der Kriegsrhetorik politisch bedenklich, die Rede von Bürgerkrieg gefährlich ist, wird nicht in Erwägung gezogen.

Oben auf der Traktandenliste von Artikeln und Kolumnen steht auch «die Republik». Zwei Diskursstränge zeichnen sich ab. Der eine setzt auf die universellen Werte der Republik, will, dass sich die Gesellschaft auf sie besinne, was dem Appell gleichkommt, sie endlich auch in der Bevölkerung maghrebinischer Herkunft und muslimischen Glaubens zu verankern. Darum sei jetzt die Schule besonders gefordert: «Man muss jetzt Toleranz unterrichten und die ‹valeurs de la République› lehren» (der Ökonom Jean-Paul Fitoussi in «Libération»). Der andere bezweifelt die integrative, stabilisierende Kraft der republikanischen Grundwerte (der Philosoph Alain Renaut in «Le Monde») oder rechnet ab mit der Ideologie der «République démocratique et laïque» (Alain Badiou in «Le Monde»). Die Republik habe es schon bisher nicht geschafft, die multikulturelle Gesellschaft, die Frankreich sei, rechtsverbindlich zu sichern. Das sei kein Zufall, denn die universellen Grundwerte, auf denen die Republik beruhe, und ihr politisches Modell könnten die ihnen zugedachten Funktionen der sozialen Integration und der politischen Lösung gesellschaftlicher Konflikte nicht erfüllen.

Ein neuer Kontext

Doch das ist erst der Beginn einer Debatte, die täglich an Intensität gewinnt. Laufend verschiebt sich ihr Schwerpunkt, von der Bewertung der Anschläge und den Defiziten des republikanischen Modells zur Situation der Jugend in den Banlieues und zur Stellung des Islam in Frankreich. Das Geschehen des 7. Januar wird in den Kontext der Konflikte im Nahen und Mittleren Osten gerückt und als Symptom für die Krise des kapitalistischen Weltsystems gedeutet.

Die lange Geschichte der Intellektuellen in Frankreich ist noch nicht zu Ende. Zwar sind keine Persönlichkeiten in Sicht, die über die Diskursmacht und die Mediendominanz verfügen wie einst Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre, Pierre Bourdieu oder Michel Foucault. Was kein Verlust sein muss. Dafür ist das Feld, auf dem sich Intellektuelle artikulieren, breiter, der Chor ihrer Stimmen polyfoner geworden.

In den Wochen seit dem 7. Januar haben Frauen und Männer, die sich islamischen Kulturtraditionen verpflichtet fühlen, sich als «intellectuels musulmans» bezeichnet und Aufrufe und Petitionen lanciert – ein Beweis, dass die Intellektuellenfigur eine Zukunft hat. Umstände, die sie begünstigen, sind gegeben: wirtschaftliche Stagnation, soziale Spannungen, die Krise des politischen Systems und die Gefahren von terroristischer Gewalt.

Martin Schaffner (74) ist emeritierter 
Professor für Neuere Geschichte der 
Universität Basel. Er hat zahlreiche Studien 
zur europäischen Demokratiegeschichte 
sowie zur schweizerischen und französischen Ideologiegeschichte verfasst.

Kampf um Deutungshoheit

Intellektuelle Selbstvergewisserungen und Dispute finden in Frankreich immer auch in Printmedien statt. Als erste Adresse gilt nach wie vor die Abendzeitung «Le Monde», deren linksbürgerlicher Kurs periodisch unter Druck steht. Mit einer Auflage von 320 000 Exemplaren konkurrenziert sie mit dem etwa gleich starken bürgerlichen «Figaro».

Die linksliberale «Libération» sackte Ende 2014 auf eine Auflage von 100 000 Exemplaren ab und kämpft mit existenzbedrohenden finanziellen Schwierigkeiten. «L’Obs» (ehemals «Le Nouvel Observateur») hat als Wochenmagazin eine Auflage von einer halben Million Exemplaren.