Fussball und andere Randsportarten: Unbegabte Ungerechte

Nr. 7 –

Pedro Lenz über Talente und rechte Flecken in der Literatur und auf dem Rasen

Fehlende Begabung kann Menschen böse machen. Das wollte mir neulich einfallen, als ich wieder einmal ein kaltherziges Zitat von Giuseppe Gracia in der Sonntagspresse las.

Giuseppe Gracia war einst ein lebensfroher, junger Mann aus St. Gallen. In seiner Jugend sass er oft in verrauchten Kneipen, und gerne wäre er Schriftsteller geworden. Vor zwanzig Jahren war er noch ziemlich freundlich, jovial und auf eine nicht unangenehme Art eitel. Er konnte am Biertisch über Liebe, Kunst und Literatur referieren, bis manche zu glauben anfingen, er habe wirklich etwas zu sagen. Tatsächlich verfasste Gracia im Lauf der Jahrzehnte ein paar Bücher. Eines hiess «Riss», und eines hiess «Santinis Frau», ein anderes trug den vielversprechenden Titel «Kippzustand».

Vielleicht waren Gracias Bücher nicht interessant genug, vielleicht hatte Gracia auch einfach nur den Ton nie ganz getroffen. Falls er je eine Begabung hatte, lag diese Begabung vermutlich nicht in der Literatur. Giuseppe Gracia hat jedenfalls als Schriftsteller keinen Durchbruch geschafft, sodass er einen anderen Beruf suchen musste. Inzwischen arbeitet er in der Kommunikation des Bistums Chur, und fast immer, wenn es zu innerkirchlichen Differenzen kommt, drängt er sich in den Vordergrund. In Interviews und Stellungnahmen tritt Giuseppe Gracia stets als Hüter der Macht auf, als Pharisäer, als humorloser Paragrafenreiter, der jene angreift und ausgrenzt, die seiner Vorstellung von Katholizismus nicht entsprechen. Der ehemalige Schriftsteller ist ein kalter, böser Mensch geworden.

Den hier beschriebenen Zusammenhang zwischen fehlender Begabung und Bosheit erleben wir auch Wochenende für Wochenende in Fussballstadien. Moreno Costanzo zum Beispiel ist ein technisch hochbegabter Fussballer und ein tadelloser Teamkollege. Seine Karriere führte ihn von St. Gallen über Wil und Bern zum FC Aarau. In Interviews bleibt er auch dann noch höflich, wenn er angefeindet und provoziert wird.

Seine fussballerische Begabung hat allerdings zur Folge, dass er von vielen Fans nicht geliebt wird und immer wieder böse Kommentare über sich lesen und hören muss. Er sei ein ewiges Talent, wird ihm oft vorgeworfen. Die Erwartungen an Costanzo scheinen unerfüllbar hoch zu sein.

Auf Fussballtribünen sitzen jeweils viele gescheiterte Fussballer, also Leute, die es fussballerisch selber nicht so weit gebracht haben wie jene, denen sie zuschauen. Deswegen identifizieren sich Fussballfans gerne mit Spielern, die wenig Talent haben. Wer unbegabt ist und es trotzdem bis an die Spitze schafft, denken die Fans, hat das Herz auf dem rechten Fleck. Dagegen ist sachlich nichts einzuwenden. Problematischer ist freilich der voreilige Umkehrschluss, die Folgerung also, dass jene, die begabt sind, charakterliche Schwächen haben müssen, weil ihnen alles ein bisschen leichter zu fallen scheint. Begabten Fussballern wird meistens mangelnder Wille vorgeworfen. Besonders diejenigen, die selber unbegabt sind, neigen dazu, ungerecht zu urteilen.

Am letzten Sonntag hat Moreno Costanzo für den FC Aarau in Thun ein herrliches Tor aus 25 Metern erzielt. Ob sie gesehen hätten, wie phänomenal dieser Treffer gewesen sei, fragte ich ein paar notorische Costanzo-Kritiker. «Klarer Goaliefehler», kam es spontan und mehrstimmig zurück. Weil sie Costanzo unter keinen Umständen rühmen wollen, müssen sie den gegnerischen Torhüter tadeln.

«Das ist die Boshaftigkeit der Unbegabten!», entfuhr es mir. Und nur wenig später stiess ich auf die hartherzigen Worte eines unbegabten Schriftstellers in der Sonntagspresse. Es war Giuseppe Gracias oben erwähnte Verurteilung eines Pfarrers aus seinem Bistum, der sich getraut hatte, ein lesbisches Paar kirchlich zu segnen. Mangelnde Begabung und Bosheit scheinen Geschwister zu sein.

Pedro Lenz ist Schriftsteller und lebt in Olten. Er mag begabte Fussballer wie Moreno Costanzo oder Diego Armando Maradona.

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