Vor fünfzig Jahren – Malcolm X: Mit allen notwendigen Mitteln
Malcolm X (1925–1965) konfrontierte die US-Gesellschaft mit ihrer rassistischen Gewalt, indem er ihr einen Spiegel vorhielt.
Von über einem Dutzend Kugeln durchsiebt, sank er am 21. Februar 1965 auf die Bretter der Bühne des Audubon Ballroom in Harlem. Über die Mörder wird bis heute spekuliert: Waren es tatsächlich Black Muslims, Mitglieder der Nation of Islam, für deren Aufstieg als separatistische schwarze Organisation er verantwortlich war und von der er sich im März 1964 abgewandt hatte? Welche Rolle spielten Polizei, FBI und CIA, die ihn seit 1953 überwacht und undercover gegen ihn intrigiert hatten?
Malcolm X war einer der charismatischsten und gleichzeitig kontroversesten schwarzen Wortführer der US-Geschichte – verehrt von der schwarzen Ghettojugend, gefürchtet vom weissen Establishment. Denn wenn Martin Luther King und die Bürgerrechtsbewegung mit gewaltfreien Protestformen Integration in die amerikanische Gesellschaft suchten, galvanisierte Malcolm X im urbanen Norden die Wut der im strukturellen Rassismus gefangenen schwarzen Unterschichten und schleuderte der Gesellschaft ihre rassistische Doppelmoral ins Gesicht.
Wer sich wie King mit den Mächtigen an einen Tisch setzte, war in seinen Augen ein «Onkel Tom», ein «Hausneger» aus den Zeiten der Sklaverei, der sich mit seinem weissen Herrn identifizierte. In seinen Reden zerdehnte er den Begriff «neeegro» oft so, dass der Kniefall auch ohrenfällig wurde. Er selber sprach lieber von Schwarzen, von African-Americans – von Black Pride und schwarzer Selbstbestimmung. Das «X», das er wie alle Black Muslims an die Stelle seines Nachnamens Little setzte, machte deutlich, dass er den Namen ablehnte, den SklavenhalterInnen seinen VorfahrInnen gegeben hatten.
«Wir sind nicht am Plymouth Rock gelandet», rief er seinem schwarzen Publikum in Anspielung auf die Ankunft der ersten SiedlerInnen in Amerika zu, «Plymouth Rock ist auf uns gelandet.» Auf die Gewalt, die Schwarze in den USA seither erfahren hatten, gab es für Malcolm X nur eine Antwort: bewaffnete Selbstverteidigung. «Lasst uns die Sprache des weissen Mannes lernen. Wenn er mit der Schrotflinte spricht, nehmt eine Schrotflinte zur Hand. Ich sage euch: Wenn er nur die Sprache des Gewehrs versteht, dann legt euch ein Gewehr zu.»
Seine Botschaft gegenüber dem Establishment war unzweideutig: Die Schwarzen Amerikas waren auf dem Weg, sich ihre Bürgerrechte zu holen, und zwar «by any means necessary» (mit allen notwendigen Mitteln): «The Ballot or the Bullet» (Der Wahlzettel oder die Kugel) hiess eine seiner bekanntesten Reden. Wobei dem brillanten Rhetoriker nicht nur die Unterschichten aus den schwarzen Ghettos begeistert an den Lippen hingen. Malcolm X füllte regelmässig die Hörsäle der weissen Eliteuniversitäten – hier begegnete man ihm ohne Vorurteile und mit Respekt, wie er seinem Biografen Alex Haley gegenüber einmal bemerkte.
Eigentlich hatte der 1925 geborene Malcolm X, der früh die Eltern verloren hatte und in weissen Pflegefamilien aufwuchs, Anwalt werden wollen. Doch die Lehrerin erklärte ihm, das sei kein realistisches Berufsziel für einen Schwarzen. Malcolm X brach die Highschool ab, zog zu seiner Halbschwester nach Boston und baute sich eine Karriere als «Hustler», also als kleiner Zuhälter, in den Strassen von Roxbury und später Harlem auf. Mit zwanzig wurde er zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Dort eignete er sich autodidaktisch ein grosses Bücherwissen an und kam erstmals mit den Black Muslims in Kontakt, für die er nach seiner Entlassung 1952 tätig wurde.
Dem Islam blieb er auch nach dem Zerwürfnis mit den Black Muslims treu, unternahm 1964 sogar die Pilgerreise und nannte sich fortan el-Hajj Malik el-Shabazz. Mit zunehmend internationalem und sozialistischem Fokus versuchte er nach ausgedehnten Reisen durch Afrika, eine internationale schwarze Bewegung aufzubauen, als die tödlichen Schüsse diesen Aspirationen ein jähes Ende bereiteten.
Während Martin Luther Kings Leben und Werk heute ganze Bibliotheken füllt, leuchtet das X von Malcolm vor allem in der Popkultur immer wieder auf. Das wird ihm historisch in keiner Weise gerecht: Die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung wären undenkbar gewesen ohne die drohende Alternative von Malcolm X.