Raoul Peck: «Sie haben es satt, über ihre Hautfarbe definiert zu werden»

Nr. 16 –

Der haitianische Filmemacher Raoul Peck sagt, James Baldwin habe sein Leben verändert. Mit seinem furiosen Essayfilm «I Am Not Your Negro» will er den US-Intellektuellen wieder ins politische Bewusstsein bringen.

«Die Herausforderung war, Bilder für seine Worte zu ­finden», sagt Raoul Peck: Schriftsteller James Baldwin auf einer undatierten Fotografie aus dem Film «I Am Not Your Negro». Foto: Dan Budnik, Magnolia Pictures

WOZ: Raoul Peck, nachdem Sie sich die Filmrechte an sämtlichen Schriften des Autors und Aktivisten James Baldwin gesichert hatten: Wie haben Sie den Fokus für Ihren Film gefunden?
Raoul Peck: Das ist ein langer Prozess gewesen, mehr als sechs Jahre Arbeit. Aber mir war schnell klar, dass Baldwins Worte im Zentrum des Films stehen sollten. Ich wollte keine Interviews vor der Kamera, ich wollte nicht, dass seine Worte interpretiert würden. Als ich dann auf die Notizen zu seinem unvollendeten Manuskript «Remember this House» stiess, mit seinen profunden Überlegungen zu den Kämpfen seiner Freunde Malcolm X, Martin Luther King jr. und Medgar Evers, hat mich das sofort gepackt. Die Herausforderung war dann, Bilder für diese Worte zu finden.

Wann haben Sie Baldwins Schriften für sich entdeckt?
Mit siebzehn oder achtzehn Jahren. Ich war wie gebannt, weil er das, was ich damals intuitiv spürte, in Worte gefasst hatte. Seine Sprache war gleichermassen analytisch und poetisch, und sie half mir, gewisse Dinge zu dekonstruieren. Um das Kino als Beispiel zu nehmen: Als Bub in Haiti bekam ich auf der grossen Leinwand selten Leute zu sehen, die aussahen wie ich … Baldwin brachte das zur Sprache. Er hat mir beigebracht, dass das Kino eine bestimmte Weltsicht transportieren kann. Heute sehen wir zum Glück viele komplexe schwarze Figuren in Filmen und Serien, aber es gibt immer noch viel zu tun.

Wie war Ihr Bezug zur Gegenwart, als Sie am Film arbeiteten?
Ich würde da mit Baldwin antworten: «Geschichte ist nicht das Vergangene, Geschichte ist die Gegenwart.» Ich hätte nie einen Film über die Vergangenheit gedreht. Im Gegenteil, an der Vergangenheit interessiert mich vor allem, was wir für die Gegenwart von ihr lernen können. Ein anderer Aspekt war natürlich, zu zeigen, wie weit das, was James Baldwin vor fünfzig Jahren geschrieben hat, aktuell ist. Das war noch viel offensichtlicher, während wir am Film arbeiteten. An manchen Tagen fragten wir uns, was für Bilder wir für diese oder jene Passage des Films verwenden sollten – dann schalteten wir den Fernseher ein, und alles war da! So waren wir zwei Wochen nach Beginn der Demonstrationen in Ferguson vor Ort, um diese heftigen Reaktionen gegen die Polizeigewalt einzufangen. Auf diese Weise pendelten wir permanent zwischen der Wirklichkeit und dem Film, an dem wir arbeiteten.

James Baldwin hat sich selber als Zeitzeuge verstanden. Dank seinen Worten haben wir Zugang zu drei Bürgerrechtlern, die alle vor vierzig Jahren ermordet wurden …
Ja, und es ist verblüffend, wenn man analysiert, was die Geschichte speichert und was sie beiseitelässt. Man macht es sich zu einfach, wenn man Martin Luther King heute bloss als gewaltfreien Priester sieht. In den letzten zwei Jahren seines Lebens war er sehr radikal, am Ende hat er sich sogar mehr für die Klassenfrage interessiert als für die Rassenproblematik. Desgleichen bei Malcolm X: Er wird oft als antiweisser Rassist beschrieben und damit auf die Periode reduziert, als er aktives Mitglied der Nation of Islam von Elijah Muhammad war. Dabei bereiste er in späteren Jahren Afrika, Europa und die arabischen Länder, und er entfernte sich zusehends von Muhammad, weil er mit der Position von dessen Organisation immer weniger einverstanden war. In seinen Notizen legt Baldwin dar, wie Martin Luther King jr. und Malcolm X einander am Ende immer näher kamen. Ich denke, dass man heute in Erinnerung rufen muss, wie komplex diese Figuren waren. Ihr gemeinsamer Nenner war, dass sie beide ermordet wurden, weil sie mit ihren Reden zu einer Gefahr für das System geworden waren.

In den USA war Ihr Film ein grosser Erfolg. Gibt es Reaktionen, die Sie besonders beeindruckt haben?
Menschen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund berichteten mir, dass Baldwin ihr Leben verändert habe, wie er auch meines verändert hat. Andere bedankten sich bei mir, weil sie Baldwin erst dank des Films überhaupt entdeckt haben. Viele Überlebende der Bürgerrechtsbewegungen wurden ja vergessen. Baldwin gehört auch zu denen, die man vergessen hat, obwohl er seinerzeit ein berühmter Autor war: Er war auf den Covers von Zeitschriften, wurde in Talkshows eingeladen, war befreundet mit Nina Simone, Elia Kazan, Marlon Brando … Ich wünsche mir, dass es mir mit diesem Film gelingt, seine Worte, seine Werkzeuge der Dekonstruktion, in die heutigen Debatten zurückzuholen.

Kurz vor den Oscars haben Sie eine Vorpremiere in einem kleinen Kino in Saint-Denis organisiert, einem sogenannten Problemquartier in Paris. Dachten Sie, dass der Film dort ein besonderes Echo auslösen würde?
Das war einfach eine spontane Reaktion auf das, was sich in Frankreich abspielte. Polizeigewalt gegen Minderheiten kann man ja schon seit vielen Jahren beobachten, und vor diesem Hintergrund dachte ich, dass der Film den Menschen dort einen Moment des Innehaltens bieten könne. Rassismus ist allgegenwärtig in den sogenannten Banlieues, aber die Behörden wollen oft nichts davon wissen. Mit der Vorpremiere wollte ich dazu beitragen, dass die Menschen mit ihrer Wut nicht alleingelassen werden. Wir haben darum ein paar Vorstadtorganisationen eingeladen, und bei der anschliessenden Diskussion hat sich gezeigt, was der Film für eine widerständige Energie freisetzt. Die Leute haben es satt, über ihre Hautfarbe definiert zu werden. Die Farbe Ihrer Haut ist doch das, was am wenigsten definiert, wer Sie sind. Ich selber erwache auch nicht jeden Morgen und sage mir, dass ich schwarz bin. Das ist für mich eine reine Äusserlichkeit. Wie Baldwin so schön sagt: «Wenn Sie mich als Neger sehen, dann deshalb, weil Sie das brauchen, und Sie müssen verstehen lernen, warum das so ist.» Er war sehr schlagfertig und geschickt darin, Angriffe zu entschärfen.

Baldwin war auch immer äusserst kritisch, was die Verheissungen des amerikanischen Traums anging. Würde er mit seinem Land heute genauso hart ins Gericht gehen?
Absolut. Er sagte damals, dass man doch nicht an einen Traum glauben könne, wenn schon die Voraussetzungen für diesen Traum auf zwei Massakern beruhten: dem Genozid an den Native Americans und dem Schrecken der Sklaverei. Kein Land, keine Nation kann solche Verbrechen ohne Konsequenzen einfach so absorbieren, zumal es Berichte und Bilder gibt, die das bezeugen. Im Film zeigen wir eines der raren Archivbilder vom Massaker von Wounded Knee in South Dakota. Ich glaube, dass dieses Bild in den unruhigen Zeiten, die wir heute erleben, dasselbe sagt wie damals: ganz einfach, dass wir unsere Verantwortung wahrnehmen sollen.

Raoul Peck.

Aus dem Französischen von Florian Keller. Das Interview wurde am Film Festival and Forum on Human Rights in Genf geführt.

I Am Not Your Negro. Regie: Raoul Peck. USA 2017

«I Am Not Your Negro» : Die Farbe der Herrschaft

Mitglied war er nirgends: nicht bei den Black Muslims oder den Black Panthers, nicht bei einer christlichen Kirche, nicht einmal bei der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), die seinem politischen Engagement wohl am meisten entsprochen hätte. Der afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin (1924–1987) blieb zeitlebens ein freier Geist, als Aktivist wie als Intellektueller.

Regisseur Raoul Peck («Lumumba») würdigt diese Haltung schon mit der freien essayistischen Form, die er für seinen Film über Baldwin gewählt hat: «I Am Not Your Negro» gehorcht keiner vorformatierten Dramaturgie für biografisches Kino, sondern lässt sich allein von der Sprache, vom Denken und Wirken seines Autors treiben – ja, Baldwin erscheint tatsächlich weniger als Protagonist denn als Autor dieses furiosen Essays über Rassismus und Kulturindustrie, über die Bürgerrechtsbewegung und die blutigen Fundamente der USA. Als Stimme aus dem Off: Quentin Tarantinos Lieblingsdarsteller Samuel L. Jackson, der Baldwins Texte mehr verkörpert als bloss liest.

Peck hat in Baldwins Nachlass ein Fragment von knapp dreissig Seiten entdeckt, das ihm gewissermassen als Drehbuch für seine Montage von Archivmaterial diente. «Remember this House» sollte das Werk heissen, Baldwin wollte darin seine eigenen Memoiren mit Überlegungen zu drei befreundeten schwarzen Bürgerrechtlern verknüpfen, die zwischen 1963 und 1968 ermordet wurden: Medgar Evers, Malcolm X und Martin Luther King jr. Wie nun Baldwin über diese Figuren nachdenkt, wird er selber – weder Partisan noch Prediger – zum verbindenden Element dieser Aktivisten, die vom weissen Establishment gerne gegeneinander ausgespielt wurden, weil sie diesem als Verbündete noch gefährlicher geworden wären.

Aber dieser Film erzählt noch viel mehr. So ruft er den Leidensweg von Elizabeth Eckford in Erinnerung, die 1958 auf dem Schulweg von einem weissen Mob verfolgt wurde, als erste Schwarze an ihrer Highschool in Little Rock, Arkansas. Er lädt Baldwins Worte mit Bildern von heute auf und macht so deutlich, dass dessen Analysen nichts von ihrer Brisanz eingebüsst haben: ob sie nun auf Rassismus und Polizeigewalt gemünzt sind oder auf den Bekenntniskult im Reality-TV. Und immer wieder wendet er sich auch Hollywood zu, um etwa zu zeigen, wie Genozid und Sklaverei im Western in patriotisches Entertainment verwandelt wurden, um die begangenen Verbrechen vergessen zu machen: «Aus einem Massaker haben wir eine Legende gemacht», notiert Baldwin trocken.

Dieses Land ist auf einem konstitutiven Rassismus gebaut, der bis heute nachwirkt: Das ist die zentrale These von «I Am Not Your Negro». In einer Zeit, da White Supremacists ins Weisse Haus eingezogen sind, kann man sich gerade keinen wichtigeren Film vorstellen.

Florian Keller

«I Am Not Your Negro» läuft in Bern, Luzern, St. Gallen und Zürich im Kino, ab dem 11. Mai 2017 auch in Basel. TV-Premiere: Di, 25. April 2017, 20.15 Uhr, Arte.