Mark Fisher: «Die Zeit hat ihren Geschmack verloren»
Warum ist die aktuelle Popmusik so süchtig nach ihrer eigenen Vergangenheit? Nicht weil wir unheilbar nostalgisch wären, sagt der Kulturtheoretiker Mark Fisher. Sondern weil wir uns jeden Glauben an eine andere Zukunft abgewöhnt haben.
WOZ: Mark Fisher, in Ihrem Buch «Gespenster meines Lebens» schreiben Sie, dass wir gerade die deprimierendste Zeit der Musikkultur seit den fünfziger Jahren erleben. Finden Sie wirklich, dass es so schlimm steht?
Mark Fisher: Ja, wir erleben in mancher Hinsicht eine kulturelle Depression. Wir haben uns damit abgefunden, dass wir heute viel weniger von Kultur erwarten, als das früher der Fall war. Die Gefahr einer solchen These ist natürlich, dass wir in Nostalgie verfallen, wenn wir unsere Gegenwart auf diese Weise an früheren Zeiten messen. Deshalb sage ich ja: Was wir brauchen, ist die Vorstellung einer Zukunft, in der die Dinge anders sind. Das ist die Zukunft, von der aus wir dereinst so scharf über unsere heutige Kultur urteilen werden.
In Ihrer Diagnose steht das Jahr 2003 am Beginn dieser Depression im Pop, die bis heute andauert. Warum gerade 2003? Ist das nicht etwas willkürlich?
Zugegeben, das ist nur eine grobe Zeitmarke. Aber seit 2003 ist es so, dass eigentlich keine neuen Musikstile mehr aufgetaucht sind. Das ist für mich der Punkt, wo diese Verflachung der kulturellen Zeit, die wir heute erleben, prägend wurde. Wenn Sie heute zehn Jahre zurückdenken, kommt es Ihnen vor, als wäre das überhaupt nicht lange her. In den siebziger Jahren dagegen waren zehn Jahre noch eine gewaltige Zeitspanne, in der sich unzählige kulturelle Veränderungen ereignen konnten. Und in den letzten zehn Jahren, was ist wirklich passiert? Die Leute verweisen dann gerne auf den technologischen Wandel. Das stimmt, aber es ist auch symptomatisch: Unsere kulturelle Zeitmessung erfolgt heute nur noch über neue Versionen des iPhone – nicht mehr über Veränderungen in der Kultur selbst.
Inzwischen ist ja sogar der technologische Wandel in der Retrokultur angekommen, wenn wir uns das neuste Produkt von Apple ansehen: eine Armbanduhr.
Genau. Was ich damit sagen will: Es gibt Unzeiten, genauso wie es Unorte gibt. Mit der Zeit ist es heute wie mit Einkaufszentren oder Flughäfen: Sie ist völlig austauschbar geworden, ganz egal, in welchem Jahr wir uns gerade befinden. Die Zeit hat ihren Geschmack verloren. Und das hat nichts damit zu tun, dass wir uns zu wenig für die Gegenwart interessieren würden. Sondern damit, dass unsere Gegenwart in jeder Hinsicht unscharf bleibt.
Wir sind uns einig, dass unsere Popkultur süchtig nach ihrer eigenen Vergangenheit ist. Der britische Musikkritiker Simon Reynolds hat für dieses Phänomen den Begriff «Retromania» geprägt. Bloss: Ergibt es überhaupt noch einen Sinn, in der Popmusik von «retro» zu sprechen?
Nein, der Begriff ist tatsächlich bedeutungslos geworden. Es hat ja immer Retrotendenzen in der Musik gegeben. Aber bis in die neunziger Jahre war es noch möglich, «Retro» als solchen zu identifizieren: Es gab zeitgenössische Musik, und es gab Retrostile. Heute werden uns Dinge, die ganz klar retro sind, als zeitgenössisch verkauft. Zum Beispiel die Arctic Monkeys: Als ich die zum ersten Mal hörte, dachte ich wirklich, das sei eine unbekannte Band aus den frühen achtziger Jahren. Oder als ich zum ersten Mal «Valerie» von Amy Winehouse hörte, hielt ich das für eine Aufnahme aus den Sixties. Natürlich, wenn man genau hinhört, merkt man schon, dass das nicht sein kann. Trotzdem: Diese Sachen wollen ganz klar retro klingen – aber sie werden nicht so beworben. Warum nicht? Weil es keine echten zeitgenössischen Alternativen dazu gibt. Der Retromodus ist heute zum Standard geworden. Und wenn alles retro ist, ist es völlig sinnlos, bestimmte Phänomene überhaupt noch als retro zu bezeichnen.
Sie teilen also die Einschätzung von Simon Reynolds, drehen diese Diagnose aber ins Politische. Ihre These ist, dass die kulturelle Lähmung, die wir heute erleben, unmittelbar auf den Aufstieg des Neoliberalismus zurückgeht. Woran machen Sie das fest?
Zu den grundlegenden Mythen des Neoliberalismus gehört ja die Vorstellung, dass wir erstens alle gleichermassen schöpferisch tätig sein können und dass wir zweitens im Zustand der Unsicherheit die besten Bedingungen finden, um kreativ zu sein. Da gilt dann jede Form von Sicherheit als dekadent: weil zu viel Sicherheit angeblich nur dazu führt, dass die Leute faul werden und nichts mehr produziert wird. Insofern kann man Neoliberalismus als Angriff gegen soziale Sicherheit im Allgemeinen verstehen – also nicht nur im spezifischen Sinn von gekürzten Sozialleistungen und dergleichen.
In dieser Verkümmerung der sozialen Sicherheit unter neoliberalen Bedingungen sehe ich eine der wichtigsten Ursachen für den Niedergang der Kreativität. Und zumindest hier in Britannien war es ja so, dass die grossen kulturellen Entwicklungen indirekt von Errungenschaften der Sozialdemokratie gefördert wurden: Stipendien, Arbeitslosengelder, Wohnungszuschüsse, billige Mieten für Hausbesetzer. Lauter Dinge, die uns die Zeit und den Freiraum eröffneten, um wirklich kreativ zu sein – frei von geschäftlichem Druck und jenseits der Mühlen der Arbeit. Um innovativ zu sein, müssen wir uns in etwas vertiefen können. Der Neoliberalismus hat diese Form von Raumzeit systematisch abgeriegelt. Das ist aber nur die eine Seite.
Und die andere Seite?
Dazu kommt die Technologie, in die wir heute eingebunden sind. Die unablässige Aufmerksamkeit, die uns die neuen Medien abverlangen, beschränkt unsere Fähigkeit, uns vertieft einer Sache zu widmen. Wir befinden uns heute in einem Zustand der permanenten Unterbrechung. Die technologische Ökologie von Smartphones macht es immer schwieriger, Zustände von Trance zu erreichen, die entscheidend sind, um Neues zu erschaffen. Das Smartphone funktioniert in gewisser Weise wie ein Hemmstoff, der uns daran hindert, in Trance zu geraten.
Und das, was diese beiden Entwicklungen verbindet, ist die Unsicherheit, das Prekariat. Was wir heute unter Prekariat verstehen, betrifft eben nicht nur die Leute, die sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen. Es bezeichnet den allgemeinen Zustand einer Gesellschaft, die ihrer sozialen Sicherheiten beraubt wurde. In diesem Klima wird jede Vertiefung in etwas zu einem Luxus, den wir uns nicht leisten können. Aufmerksamkeit ist eine wertvolle Ressource. Sie ist so kostbar geworden, dass wir uns immer weniger gestatten, uns auf eine einzige Sache zu konzentrieren. Das alles führt zu einem Klima, das einer kulturellen Suche nach dem Neuen schlicht nicht zuträglich ist.
Aber gemessen am Volumen ist die kulturelle Produktion ja nicht zurückgegangen, im Gegenteil.
Die Frage ist: Hat sich wirklich die kulturelle Produktion stark vermehrt, oder ist einfach ihre Verfügbarkeit gestiegen? Ein Teil des Problems ist gerade die Unmenge an Kultur, die durch das Internet greifbar geworden ist. Dieser Überfluss kaschiert letztlich nur, wie kümmerlich ein grosser Teil dessen ist, was heute geschaffen wird. Was wir erleben, ist mehr eine Krise des Neuen als der Produktion an sich. Es gibt dieses Gedankenexperiment, das ich im Buch anhand von Musik durchspiele: Wenn wir irgendein Stück aus dem Jahr 2014 ins Jahr 1994 zurückschicken könnten, wie würden die Leute von damals darauf reagieren? Wären die schockiert? Ich glaube nicht. Im Gegenteil, sie würden fragen: «So klingt die Zukunft in zwanzig Jahren? Haben sich die Dinge wirklich so wenig verändert?» Das ist, was ich zu Beginn mit den Erwartungen meinte: Früher setzten wir viel höhere Erwartungen in die Zukunft. Heute erwarten wir nicht mehr viel von der Zukunft. Wir glauben nicht, dass sie sich stark von der Gegenwart unterscheiden wird.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es in der Popmusik immer wieder zu eigentlichen Zukunftsschocks gekommen, zu kulturellen Brüchen. Damals wurden wir regelmässig entführt von etwas, was uns völlig fremd erschien – mit der Folge, dass wir unsere Vorstellung davon, was Kultur ist, immer neu kalibrieren mussten. In diesem Sinn haben wir tatsächlich das Ende der Geschichte erreicht.
Sie spielen auf Francis Fukuyamas Buch von 1992 an. Seine These vom Ende der Geschichte nimmt doch schon lange niemand mehr ernst. Oder wollen Sie sagen, dass er doch recht hatte?
In kultureller Hinsicht haben wir uns irgendwie alle damit abgefunden, dass das «Ende der Geschichte» irgendwie trotzdem eingetroffen ist – auch wenn das niemand offen zugeben mag. Heute kann sich niemand mehr vorstellen, dass sich nochmals etwas von der Grösse der Beatles oder des Punk ereignen könnte. Dazu kommt das Gewicht der Archive, das auf uns lastet: Die Ikonen der Vergangenheit schnüren uns den Raum für das Neue ab. Wir leben in einer Zeit, in der die grundlegenden Formen etabliert sind, und nun werden sie endlos durchgespielt, bei schwindendem Ertrag.
Eine weitere Ursache für den Mangel an Innovation ist das Problem der Vergütung von Musik. Es wird ja niemand behaupten, dass die Musikindustrie ein ideales Modell für die Finanzierung von Musikern gewesen wäre. Aber die Plattenfirmen früher haben buchstäblich Zeit für die Musiker gekauft. Diese Form des Einkommens trocknet heute aus. Da müssen wir uns nicht wundern, wenn sich vor allem die Privilegierten überhaupt leisten können, Popmusik zum Beruf zu machen: Denken Sie an Leute wie Florence and the Machine, Keane oder Snow Patrol, die alle von Privatschulen kommen. Abgesehen davon, dass sie furchtbar langweilige Musik machen.
Und wenn die Popmusik inzwischen einfach der falsche Ort ist, um das Neue zu erwarten? Wenn Pop schlicht nicht mehr die Brutstätte für aufregende neue Jugendkulturen ist, wie das noch im 20. Jahrhundert der Fall war?
Das ist ja auch nur ein Mythos der Jugendkultur: dass das Neue immer von den Jungen kommen müsse. Nur weil jemand jung ist, heisst das ja noch lange nicht, dass er eher dazu befähigt wäre, etwas Neues zu erschaffen. Ich glaube tatsächlich, dass die Jugendkultur in gewissem Sinn verschwunden ist. Und das, was von ihr übrig bleibt, ist umgeben von einer gewissen Melancholie: Heute streifen die Jungen durch die Überreste der bestehenden Kultur und rezyklieren Stilmittel, von denen viele schon vor ihrer Geburt etabliert waren. Die Leute fragen mich manchmal, warum das alles überhaupt ein Problem sei.
Genau, spielt es eine Rolle, ob die Dinge neu sind oder nicht?
Ja, das tut es. Denn es bedeutet, dass neue Generationen keine Kultur haben, die sie ihr Eigen nennen können. Die kulturhistorische Erzählung, die uns erlaubt, zwischen Vergangenem und der Gegenwart zu unterscheiden, ist zusammengebrochen. Der US-Kulturtheoretiker Fredric Jameson war der Erste, der diese dehistorisierenden Tendenzen in unserer spätkapitalistischen Kultur erkannt hat, schon Mitte der achtziger Jahre. Damals konnte man die Postmoderne, die er beschreibt, noch auf bestimmte kulturelle Bereiche eingrenzen. Heute ist sie endemisch geworden. Die postmoderne Kultur, so hat Jameson gezeigt, tendiert stilistisch zum Pastiche …
… das heisst zu einer Nachahmung älterer Formen.
Richtig. Und wenn das zum Normalfall wird, wird ein Pastiche nicht mehr als solcher erkannt. Unsere Gegenwart ist total kolonisiert durch die Vergangenheit – ein Zustand, der durch technologische Upgrades teilweise verschleiert wird. Das sind aber wieder nur Alibis, die allen diesen vertrauten kulturellen Formen den Anschein des Zeitgenössischen verleihen. Unsere Gegenwart ist dermassen gesättigt vom Vergangenen, dass wir die Vergangenheit nicht mehr als solche wahrnehmen. Das ist diese Verflachung der Zeit, die dazu führt, dass wir auch keine Vorstellung mehr von einer Zukunft haben, die anders wäre als unsere Gegenwart.
Ist das alles nicht furchtbar nostalgisch, was wir da reden?
Klar könnte man sagen, ich sei einfach alt geworden. Das war schliesslich schon immer so, dass Leute ab einem gewissen Alter finden, früher sei die Musik besser gewesen. Aber das stimmt nicht. Früher sagte man: «Ach, das ist doch gar keine Musik mehr, das ist nur noch Lärm, unverständlicher Mist.» Ich sage gerade das Gegenteil: Was wir heute hören, ist alles viel zu vertraut. Die Frage ist also: nostalgisch in Bezug worauf? Wir haben es hier nicht mit einer Nostalgie im psychologischen Sinn zu tun, sondern mit einer allgegenwärtig gewordenen formalistischen Nostalgie, einer Nostalgie der Stilmittel. Es ist ja nicht so, dass sich die Leute wirklich nach der Vergangenheit sehnen würden. Sie sind bloss dieser mechanischen Wiederholung von längst etablierten Stilen ausgesetzt. Und: Nostalgie setzt voraus, dass wir noch zwischen Gegenwart und Vergangenheit unterscheiden. Und es ist gerade diese Unterscheidung, die heute in der Kultur verwischt wird. Das Problem mit unserer Kultur ist nicht Nostalgie, sondern eine Form von Gedächtnisstörung.
Wie meinen Sie das?
Der britische Musiker The Caretaker hat unser kulturelles Malaise sehr schön auf den Punkt gebracht mit seiner 6-CD-Box «Theoretically Pure Anterograde Amnesia». Der Begriff «Anterograde Amnesie» bezeichnet eine Form von Gedächtnisstörung, die wir aus Christopher Nolans Film «Memento» kennen: Der Protagonist dort kann sich an alles erinnern, was er vor dem Moment seines Traumas erlebt hat. Aber er kann keine neuen Erinnerungen speichern. Das scheint mir eine präzise Analogie zur Kultur unserer Gegenwart: Wir sind unfähig, neue Erinnerungen zu speichern, darum bleiben wir gefangen in einer ewigen Vergangenheit, die wir nicht einmal als solche erkennen. Was man eigentlich meint, wenn man heute von Nostalgie spricht, ist also eine Form von Amnesie.
Eine andere berühmte Filmfigur, die in Ihrem Buch immer wieder auftaucht, ist Jack Torrance, der von Jack Nicholson gespielte Schriftsteller aus «The Shining». Wieso ist er so wichtig für Sie?
Zunächst ist das Timing des Films bedeutsam: «The Shining» kam im Jahr 1980 in die Kinos, also genau im Augenblick des Übergangs zum Neoliberalismus, auch wenn das natürlich nicht über Nacht passiert ist. Ronald Reagan stand kurz vor der Wahl zum US-Präsidenten, und Margaret Thatcher war bereits im Amt. Dann zur Figur von Jack Torrance: Auch bei ihm gerät das Zeitgefühl zusehends durcheinander, sobald er das Overlook-Hotel betritt. In entscheidenden Szenen sieht er die Geister, die ihm erscheinen, nicht mehr als Figuren aus der Vergangenheit, sondern er begegnet ihnen, als wären sie seine Zeitgenossen. Das macht ihn zu einer prophetischen Figur für unsere Zeit, denn die pathologische Störung, unter der er leidet, können wir heute in verallgemeinerter Form in der Kultur beobachten: Wie Jack Torrance in «The Shining» werden auch wir von geisterhaften Spuren einer Vergangenheit geplagt, die uns lebendiger erscheint als die Gegenwart und die einfach nicht verschwinden will. Wir werden dauernd von Vergangenem eingelullt und dazu verführt, so zu tun, als ob es gegenwärtig wäre.
Wenn ich Ihr Buch nicht gelesen hätte, würde ich sagen: reiner Kulturpessimismus!
Selbst bei Leuten, die das Buch gelesen haben, kommt es vor, dass sie mich für einen Kulturpessimisten halten (lacht). Ich bezeichne mich lieber als negativ.
Wo liegt da der Un
terschied?
Nun ja, Pessimismus impliziert, dass die Dinge zwangsläufig so sind, wie sie eben nun mal sind, und dass sie sich ohnehin nie zum Guten ändern werden. Das sehe ich überhaupt nicht so. Ich bin negativ in dem Sinn, dass ich auf eine gewisse Negativität hinweise, die unzweifelhaft vorhanden ist, die aber gerne abgestritten und unterdrückt wird. Was ich sage, klingt ja für niemanden besonders überraschend. Ich liefere keine überzeitliche Verfallstheorie unserer Kultur, meine Analyse gilt nur diesem Moment in unserer Gegenwart – einem Moment, der allerdings schon lange anhält. Mir geht es darum zu zeigen, dass etwas schiefgelaufen ist. Um dann zu fragen: Wie finden wir da wieder heraus?
Da wären wir endlich bei der alten Frage von Genosse Wladimir Iljitsch Lenin: Was tun?
Natürlich kann man die Zukunft nicht einfach zurückwünschen. Aber man kann darauf aufmerksam machen, dass wir eine Zukunft verloren haben. Der eigentliche Kulturpessimismus wäre, wenn wir uns fatalistisch damit abfinden würden, dass es nun einfach immer so weitergeht. Die Melancholie, mit der ich diese Entwicklung betrachte, ist eine Form der Weigerung, mich damit abzufinden – ein melancholisches Festhalten an der Sehnsucht nach einer anderen Zukunft. Ich weigere mich zu glauben, dass das Objekt meines Begehrens einfach verschwunden ist.
Mit anderen Worten: Sie weigern sich, in den Chor derer einzustimmen, die sich dem ergeben, was Sie «kapitalistischen Realismus» nennen – der falschen Resignation, wonach es keine Alternative zum Kapitalismus gebe, wie Margaret Thatcher sagte.
Thatchers Behauptung war ja ursprünglich so gemeint, dass es keine «gute» Alternative gebe – dies zu einem Zeitpunkt, als es sehr wohl noch Alternativen gab. Aber seit diese mit dem Zusammenbruch des Ostblocks verschwunden sind, wurde daraus die ontologische Behauptung, wonach eine Alternative zum Kapitalismus gar nicht mehr möglich sei. Das, was ich «kapitalistischen Realismus» nenne, ist im Wesentlichen eine Pathologie der Linken – nämlich das Syndrom einer Linken, die sich mit dieser Situation arrangiert hat. Das Paradebeispiel dafür ist natürlich New Labour unter Tony Blair in Britannien, die sich diesem falschen Realismus ergeben hat: «Es gibt keine Alternative zum Kapitalismus, aber vielleicht können wir die Dinge mit ein bisschen sozialer Gerechtigkeit überzuckern.»
In der Weigerung, sich dieser Form von kapitalistischem Realismus zu fügen, steckt auch wieder ein Element von Melancholie. Aber es muss eine Melancholie sein, die sich aus einer möglichen Zukunft speist, die wir verloren haben – keine Melancholie, die einer vergangenen Linken nachtrauert. Wir sollten unsere Gegenwart an jener Zukunft messen, die leider nicht eingetroffen ist, die aber immer noch möglich wäre. Wir würden ja nicht die Sozialdemokratie der siebziger Jahre einfrieren wollen, damit sie ewig andauern würde. Sondern es geht darum, dass wir die Sozialdemokratie damals als Stützpunkt auf dem Weg in eine bessere Zukunft sahen. Wir sollten versuchen, uns daran zu erinnern, wie wir uns diese Zukunft damals vorstellten.
Was hindert uns daran?
Das Problem ist, dass wir kein positives politisches Projekt haben. Den Rechten ist es gelungen, heterogene Interessengruppen aus völlig unterschiedlichen Lagern zu koordinieren. Sie haben es geschafft, die amoralischen Anhänger der freien Marktwirtschaft und die religiösen Rechten hinter sich zu scharen. Das ist eine sehr effiziente Bricolage von eigentlich unvereinbaren Positionen, und in dieser Hinsicht sind die Rechten die viel besseren Postmodernisten als wir. Die Linke hat das nie geschafft, weil sie immer Gefahr lief, in sektiererische Gruppen zu zerfallen. Die Aufgabe der Linken muss es sein, den Mainstream wieder zu besetzen. Das Problem ist, dass wir den Ehrgeiz dazu irgendwie aufgegeben haben. Die Beschränkung auf Formen des Protests ist ein Zeichen für den Niedergang der Linken. Wir sind mehr und mehr abgekommen von der Idee, die Gesellschaft besser zu organisieren, und haben uns darauf verlagert, gegen die Auswüchse des Kapitalismus zu protestieren.
Offenbar genügt der Antikapitalismus als Programm einfach nicht, um die Leute zu mobilisieren. Dazu kommt: Die Rechte scheint fähig, populistische Bewegungen mit parlamentarischer Macht zu verbinden. Die Linke ist nicht nur unfähig dazu, sie hegt sogar oft eine gewisse Verachtung für parlamentarische Politik. Die Occupy-Bewegung etwa, bei allen ihren Verdiensten, wollte gar keine Verbindung zu den konventionellen Ebenen der politischen Macht herstellen. Das ist aber nötig, sonst bleiben wir immer in dieser Protestkultur stecken. Die Linke muss bestehende Parteien neu besetzen, meinetwegen auch neue Parteien gründen und in den Parlamenten präsent sein. Wenn wir das nicht tun, weil wir das für dekadent oder hoffnungslos halten, werden sich die Rechten bedanken und so weitermachen wie bisher.
Es gibt heute immerhin einen prominenten Engländer, der in einem gleichnamigen Buch unverhohlen zur «Revolution» aufruft: den Komiker und Schauspieler Russell Brand. Sollen wir ihn ernst nehmen?
Ich habe sein Buch nicht gelesen. Aber bei allen Problemen, die man mit Russell Brand haben kann: Er ist eine Figur, wie wir sie heute brauchen. Er ist zwar kein Intellektueller, kein Theoretiker der Revolution. Aber er nutzt seine Bekanntheit, um progressive Ideen voranzutreiben – auch wenn die Art und Weise, wie er sie artikuliert, vielleicht mangelhaft ist. Und er erreicht damit, dass ein Publikum, das von Politik sonst völlig abgeschnitten ist, sich zumindest über die Möglichkeit einer Revolution Gedanken macht. Das ist schon viel, wenn Sie mich fragen. Wir brauchen mehr Leute wie ihn.
«Gespenster meines Lebens»: Wo ist bloss die alternative Zukunft geblieben?
«Brand new, you’re retro», keuchte Tricky vor genau zwanzig Jahren. Heute klingt der Slogan wie eine Diagnose zur Popmusik der Gegenwart: Selbst das Neue tönt wie von gestern. «Retromania» nannte der britische Musikkritiker Simon Reynolds dieses Syndrom in seinem gleichnamigen Buch. Sein Landsmann Mark Fisher (46), Kulturtheoretiker am Londoner Goldsmiths College, dreht den Befund weiter. Was die Popkultur lähme, sei nicht die süsse Versuchung der Nostalgie, schreibt er in seinem neuen Buch, «Gespenster meines Lebens», das demnächst auf Deutsch erscheint: «Das Problem ist nicht mehr die Sehnsucht nach der Vergangenheit, sondern die Unmöglichkeit, ihr zu entkommen.»
Die zentrale Denkfigur, um die seine Essays kreisen, findet Fisher im Begriff der «Hauntology» nach Jacques Derrida. Was er damit meint: Das Gespenst, das in der heutigen Popkultur umgehe, sei nicht eigentlich die Vergangenheit; es sei das Gespenst einer alternativen Zukunft, die nicht eingetroffen ist. Die Trauer über diesen «Verlust der Zukunft» hört Fisher in der elektronischen Musik von Leuten wie Burial oder The Caretaker, und in Filmen von «The Shining» bis «Memento» entdeckt er bestechende Metaphern, die das gestörte Zeitgefühl der Postmoderne auf den Punkt bringen.
Seine Themen sucht Fisher meist in der britischen Popkultur: Sie reichen von Joy Division bis zu den Krimis von David Peace, von den gespenstischen Soundscapes eines Burial bis zum neoliberalen Partybefehl von David Guetta – und von den Zeitreisen in der britischen TV-Serie «Life on Mars» bis zum verlorenen Unbewussten im Blockbuster «Inception». Das ist insgesamt nicht mehr so griffig wie Fishers erstes Buch «Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?» (2013) und dort, wo es um Musik geht, etwas spezialistisch – aber immer klug und inspirierend.
Florian Keller
Mark Fisher: «Gespenster meines Lebens. Depression, Hauntology und der Verlust der Zukunft». Aus dem Englischen von Thomas Atzert. Edition Tiamat. Berlin 2015. 170 Seiten. Fr. 25.90. Erscheint am 15. März.