Spechtls Solo: Ein flanierender Mr. Hyde
Alles andere als zum Einschlafen: Auf seiner Soloplatte «Sleep» emanzipiert sich Ja,-Panik-Sänger Andreas Spechtl vom klassischen Popsong.
Wie ein gebrechlicher Greis stützt sich Andreas Spechtl, Sänger der Gruppe Ja, Panik, in einem Promovideo auf seinen Bandkollegen. Er ist zur Hälfte mit schwarzer Farbe bemalt und eröffnet damit Assoziationen vom Batman-Bösewicht Two-Face bis zu Robert Louis Stevensons Erzählung vom «Seltsamen Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde». Spechtl legt sich im Video auf eine Leinwand und hinterlässt einen schwarzen Abdruck auf der weissen Fläche, der ihn in embryonaler Schlafstellung zeigt. Das Bild ziert nun auch das Cover des ersten Soloalbums Spechtls, und es ist gut gewählt, denn sowohl das Album wie auch das Soloprojekt heissen «Sleep».
Doch bei «Sleep» macht Spechtl vieles anders als bei Ja, Panik: Die verzerrten Gitarren fehlen fast vollständig. Stattdessen dudelt mal ein Saxofon, es fiepen Synthesizer und scheppern nordafrikanische Saiteninstrumente. Spechtl singt ausschliesslich englisch und experimentiert sowohl mit künstlicher Elektronik als auch mit Tonbandaufnahmen, sogenannten Field Recordings.
Im Sphärischen verloren
In «Hauntology», dem zweiten von acht Stücken auf dem Album, treibt Spechtl die musikalische Neuerfindung auf die Spitze: Zu pointierten Bläsern und einem schwelenden Schlagzeug spielt er mit elektronischen Schnipseln und macht mit verzerrter Stimme unverständliche Durchsagen. Der Titel des Songs bezieht sich auf ein Konzept des Philosophen Jacques Derrida aus seiner Studie «Marx’ Gespenster». Anfang der neunziger Jahre postulierte er darin, dass Europa auch in Zukunft von den Geistern seiner Vergangenheit, zum Beispiel dem Marxismus, heimgesucht werde. Schliesslich würden die sozialen Probleme im Kapitalismus zunehmen. Die britischen Popkulturtheoretiker Mark Fisher und Simon Reynolds übertrugen zehn Jahre später Derridas Konzept auf die Popmusik. Ihre These: Im ewigen Kreislauf von Produktion und Konsum hat die gängige Popmusik ihre Kreativität und Zukunft verloren. Die Musik, die sie als «Hauntology» fassen – was mehr ein Konzept als ein Genre bezeichnet –, flüchtet sich immerhin nicht in Nostalgie, sondern betrauert hörbar den Verlust der Zukunft. Dies versuchten Fisher und Reynolds anhand der gespensterhaften Musik des Debütalbums von Burial und der Veröffentlichungen des Elektronika-Labels Ghost Box zu beschreiben.
Spechtl ahmt zwar die «Hauntology» eher nach, als dass er sich unter die grossen GeisterruferInnen der Stilrichtung einreihen will. Was aber doch die Absicht zeigt, sich auf «Sleep» von konventionellen Popsongstrukturen zu emanzipieren.
«Sleep» ist von zähem Dub durchzogen und verliert sich manchmal im Sphärischen. Dies ganz im Gegensatz zum vorwärtstreibenden Indie-Pop des letzten Ja,-Panik-Albums «Libertatia», das vergangenes Jahr erschienen ist. Dennoch kann «Sleep» inhaltlich als eine konsequente Weiterführung davon gelesen werden. Endete «Libertatia» noch mit der Forderung nach dem grenzenauflösenden Durchstreifen der Welt in «Antananarivo», dem letzten Song, hat sich Spechtl bei «Sleep» selbst beim Wort genommen. Er ist losgezogen in die Welt und zurückgekehrt mit Gesprächsfetzen aus einer marokkanischen Teestube, vermeintlich südostasiatischem Motorradknattern und einem spanischen Wiegenlied. Letzteres verzerrt Spechtl im Song «Duérmete Niño» beunruhigend, und er lässt ein behäbiges Piano zu kopfnickendem Beat dagegen anspielen. Unter der behaglichen Decke des Wiegenlieds spürt Spechtl so einem Traum nach, bei dem oberflächlich alles im Lot scheint, doch der jeden Moment in einen Albtraum kippen kann. Das Ergebnis ist keinesfalls zum Einschlafen. Vielmehr weckt der Song die anfängliche Assoziation von Mr. Hyde wieder, der im dunkeln Mantel durchs düstere London streift.
Ein neuer Mantel
Zielloses Umherstreifen empfahl Andreas Spechtl einst schon 2011 in einem selbst publizierten Buch von Ja, Panik mit dem etwas hochtrabenden Titel «Schriften», in dem die Band ihre Manifeste, wichtige Texte und Gedanken publizierte. Unter dem Titel «Das Flanieren als Lebens-, Denk- und Liebesform» schreibt dort Spechtl: «Der Meister des Flanierens trägt seine Persönlichkeit wie einen Mantel, er legt sie ab, wenn er in die warme Stube kommt, und besorgt sich eine neue, wenn sie verschlissen ist.» So betrachtet, ist «Sleep» keine künstlerische Neuerfindung Spechtls, nur ein neuer Mantel – wie der von Mr. Hyde.
Spechtl schliesst mit seinem Konzept des Flanierens als Daseinsform an die «dérive», das zufällige Erkunden urbaner Landschaften, der Situationistischen Internationale an. Die avantgardistisch-politische Kunstbewegung der sechziger Jahre um den Autor, Filmemacher und Künstler Guy Debord propagierte damit ein gedankenloses Flanieren im Stadtraum, das weniger einem erholsamen Spaziergang als vielmehr einer forschenden Erkundung gleichen sollte. Aufgrund der Wirkung der Architektur auf die Gefühle der Menschen entwarfen die Situationisten aus ihren «dérives» emotionale Stadtpläne.
Insofern überträgt Spechtl das situationistische Verfahren der «dérive» auf die Musik und entwirft auf dem Album «Sleep» eine schlafwandlerische Karte seiner emotionalen Welt. Im Schutz der Nacht wirft er sich einen neuen Mantel über, um damit die musikalischen, persönlichen und nationalen Grenzen zu überschreiten. Spechtls Flanieren ist damit sowohl künstlerisches Credo als auch konsequenteste Daseinsform im Anschluss an die politischen Forderungen von «Libertatia». Auf diesen neusten Streifzügen begleitet man ihn gern.
«Sleep» erscheint am 24. Juli 2015.
Andreas Spechtl: Sleep. Staatsakt/Caroline