Sicherheitswahnsinn: «Willkommen», sangen die Sirenen

Nr. 8 –

Wenn der Umzug in einen anderen Kanton einen zur Zone-2-Bewohnerin macht und das Gemeindehaus Tabletten verteilt, hilft nur eines: Ruhe bewahren.

Darauf, dass ich bei der Anmeldung auf der Gemeindeverwaltung Kaliumiodidtabletten mit dem entsprechenden Beipackzettel angeboten bekommen würde, hatte mich niemand vorbereitet. Dass beim Fasnachtsumzug im Dörfchen ein Wagen mit der Protestaufschrift «Wömmer lüchte?» dabei war, war zwischen all dem Befremden, das so ein Umzug an sich schon auslöst, auf einer neuen Ebene befremdlich. Und ich wusste auch nichts über den Probealarm wenige Tage nach der Jodtablettenüberraschung. Während mich die Sirenen im Aargau willkommen hiessen, konnte mir mein, momentan schwer überfordertes, Denkvermögen nur dazu raten, meine Jodtabletten zu holen, meine zwei Kaninchen zu schnappen und so, mit einem Kaninchen auf jeder Seite und den Tabletten in der Hosentasche, in den Keller zu stürmen. Ja, kurz dachte ich das. Ernsthaft.

Mit fremdem, bösem Atomstrom

Die nukleare Katastrophe in Tschernobyl 1986 – immerhin etwa 1500 Kilometer von meiner Heimatstadt in Oberösterreich entfernt – ereignete sich vor meiner Geburt und blieb damit ein abstraktes, wenn auch diskursiv stark präsentes Unglück, das mit mir eigentlich nichts zu tun hatte. Österreich ist seit dem Atomsperrgesetz, das nach einer Volksabstimmung im November 1978 beschlossen wurde, «atomfrei». Beim Plebiszit wurde mit der knappen Mehrheit von 50,47 Prozent gegen die Inbetriebnahme des bereits fertiggestellten Kernkraftwerks Zwentendorf gestimmt. Der kleine Unterschied von weniger als 30 000 Stimmen prägte die österreichische Energiepolitik. Zwentendorf, heute ein mit einer Fotovoltaikanlage bestückter ikonografischer Ort für die Antiatomkraftbewegung, war der von Bundeskanzler Bruno Kreisky stark unterschätzte Stein des Anstosses.

Das Gesetz verbot übrigens nicht den Gebrauch von Atomstrom, sodass jahrzehntelang fröhlich der «unsaubere» Strom aus den Nachbarländern importiert wurde. So bin ich zwar mit bösem Atomstrom, aber immerhin in einem Land aufgewachsen, in dem niemals ein Atomkraftwerk in Betrieb genommen wurde.

Bevor ich in den Aargau zog, fand etwas in sämtlichen gut gemeinten «Aargau-Warnhinweisen» keinerlei Erwähnung: Mein neuer Wahlkanton hat insgesamt drei Atomkraftwerke in Betrieb: Beznau I und II sowie das AKW Leibstadt. Ausserdem ein Zwischenlager in Würenlingen und – wer weiss – bald vielleicht auch ein Endlager in der Gemeinde Bözberg. Beznau I und II sind die ältesten Atomkraftwerke weltweit und liegen deshalb mit ihrer Laufzeit weit über dem Durchschnitt. Hier ist natürlich dagegenzuhalten, dass die Devise lautet, ein Kraftwerk werde nur dann weiterbetrieben, wenn dies auch sicher sei. Bei allen Beteuerungen des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (Ensi) zu den hohen Sicherheitsstandards der Schweiz: Laut Greenpeace ist ein verheerender Reaktorunfall in der Schweiz wahrscheinlicher als ein Sechser im Lotto.

Und eben trotz jener Beteuerungen «kann ein Unfall mit Auswirkungen ausserhalb der Anlage nicht ganz ausgeschlossen werden», wie es im «Konzept für Notfallschutz in der Umgebung der Kernanlagen» heisst. Dieser Plan für den strahlenden Fall der Fälle gibt dem Aufblitzen meiner panischen Intuition übrigens recht: In der sogenannten Wolkenphase sollte ich, als Bewohnerin der Zone 2 (zwanzig Kilometer Radius zum AKW) und gewarnt durch das Sirenenzeichen «Allgemeiner Alarm», tatsächlich schleunigst mit Jodtabletten ausgerüstet in den Keller umziehen.

Wissen ums Ungewisse

Wahrscheinlich ist es für die meisten AargauerInnen wie für viele andere Menschen auf diesem Planeten zur Normalität geworden, dieses Wissen um die Ungewissheit. Für mich, die es gewohnt ist, nur Atomstromnutzniesserin in einem AKW-freien Land zu sein, ist die Erkenntnis, in nicht mal zwanzig Kilometern Entfernung zu einem AKW zu wohnen, mit keinem mir vertrauten Gefühl vereinbar.

Eine neue Unsicherheit ist damit in mein Bewusstsein getreten. Sie ist beschreibbar und verortbar, aber keinesfalls rationalisierbar. Sie ist nicht immer präsent, aber in ihrer tatsächlichen Präsenz ganz ungeheuerlich. Und bis eine knappe Mehrheit entscheidet, dass sich das ändern könnte, so lange muss ich wohl – als ansonsten recht zufriedene Neuaargauerin – mit dieser Unsicherheit leben, so wie alle anderen SchweizerInnen auch.