Atomkanton Aargau: Eine ungespaltene Beziehung

Nr. 20 –

Der Einfluss der Atomlobby im Kanton Aargau ist auch nach Fukushima ungebrochen. Zu Besuch bei einem ihrer Vertreter. Und bei Atomkritikern, die von «Filz» sprechen.


Kurt Wyss pflegt ein ungespaltenes Verhältnis zur Atomwirtschaft. Der gebürtige Luzerner lebt mit seiner Familie seit 1984 in Gippingen, in unmittelbarer Nähe der Atomkraftwerke Beznau und Leibstadt. Kurt Wyss schläft gut in der Gefahrenzone 1.

So wirkt der leitende Zollbeamte auch diese Woche in seinem Büro im zweiten Stock der Zollverwaltung in Schaffhausen: ausgeschlafen, braungebrannt, sportlich, selbstsicher. Auf seinem Pult hat er eine Autogrammkarte von Bundesrätin Doris Leuthard gut sichtbar platziert. Die CVP-Parteikollegin ist Atomlobbyistin wie er. Der Aargauer Grossrat, 58, sitzt seit 2008 im Verwaltungsrat des AKWs Leibstadt. 6000 Franken plus Spesen im Jahr erhält er dafür. Weder er noch die Bevölkerung seien «gekauft», sagt er mehrmals. Auch Fukushima hat ihn zwar «betroffen» gemacht, aber seinen Glauben an die Sicherheit der Atomkraft in der Schweiz nicht erschüttert. In Leibstadt, wo er in die Bücher sieht, seien seit der Inbetriebnahme 400 Millionen Franken investiert worden, die Hälfte davon in die Sicherheit.

Volles Vertrauen

Hochwasser, Erdbeben – alles nach menschlichem Ermessen beherrschbar, im Griff, volles Vertrauen. Ja, man müsse neue Erkenntnisse aus der Katastrophe in Japan bei der Bewilligung neuer Atomkraftwerke berücksichtigen, der Marschhalt des Bundesrats sei daher richtig. Seinen unerschütterlichen Glauben in die Atomkraft begründet er so: «Wer hier lebt, lebt mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Atomindustrie zusammen, wir wissen daher mehr und sind besser informiert. Ich habe volles Vertrauen in diese Leute.» Die «Kernkraft» sei keine überholte Technologie, kein Auslaufmodell.

Wyss benutzt den Begriff «Brückentechnologie». «Irgendwann werden neue Technologien die Kernkraft ersetzen, aber wie lange diese Brücke noch ist, weiss niemand», sagt er. Derzeit gebe es keine ernsthaften Alternativen. Er unterstütze zwar alternative Technologien und Wasserkraft, aber ein rascher Ausstieg, wie ihn Grüne und SP fordern, sei abwegig. «Wir müssen neue Kernkraftwerke bauen, wir können doch nicht die Wirtschaft und die Bevölkerung bestrafen und unseren Lebensstandard gefährden.»

Das sieht im Kanton Aargau nicht nur Kurt Wyss so. Er ist kein Einzelfall. Wyss verkörpert den Normalfall eines bürgerlichen Aargauer Politikers. Und weiss den Grossteil der Bevölkerung hinter sich. Sie stimmte bisher immer atomfreundlich ab, lehnte alle Ausstiegsforderungen und Moratorien ab, in manchen Gemeinden mit sowjetisch anmutenden Mehrheitsverhältnissen. Der Grosse Rat hat erst am 10. Mai einen Antrag der SP, der Kanton Aargau solle sich für die Abschaltung von Beznau und Mühleberg einsetzen, mit einer Zweidrittelmehrheit abgeschmettert. FDP, CVP und SVP zogen auch einem neuen Energiegesetz alle Zähne.

Aargau war lange Untertanenland, als hinterwäldlerisch und provinziell belächelt und als Rüebliland verspottet, klein gehalten von den urbanen Zentren Basel und Zürich. Im Aargau gibt es bloss mittelgrosse Städte wie Aarau, Baden oder Brugg. Erst die Nutzung der Wasserkraft im grossen Stil und die Entstehung bedeutender Unternehmen wie Brown Boveri und Motor Columbus brachten Arbeit, Wohlstand und Selbstbewusstsein. Heute liefern 25 grosse Wasserkraftwerke an Aare, Rhein, Reuss und Limmat so viel Strom, dass der gesamte Kanton ohne Atomkraft versorgt werden könnte. Wasserzinsen und Konzessionen spülen Millionen in die Staats- und Gemeindekassen.

Aber der Kanton setzt seit langem auch auf alles, was mit Atomkraft zu tun hat: drei AKWs, das Zwischenlager für radioaktive Abfälle (Zwilag) in Würenlingen, die Nagra in Baden, das Paul-Scherrer-Institut (PSI) in Brugg. Aargau ist der Atomkanton der Schweiz. Garanten der Atomlobby sind FDP und CVP. Die SVP halte sich eher im Hintergrund, aber stimme ebenfalls atomfreundlich ab, sagt der SP-Grossrat Martin Christen, ein kompromissloser Anti-AKW-Aktivist.

«Gekauft»

Noch in den achtziger Jahren wurden Leute wie er als «Arbeitsplatzvernichter» beschimpft. KritikerInnen versuchte man mundtot zu machen oder auszugrenzen. Kritische KantischülerInnen wie Geri Müller, heute grüner Nationalrat, erregten den Zorn mancher LehrerInnen. Nach Fukushima sei eine gewisse Verunsicherung spürbar, sagt Müller. Ob die Stimmung zugunsten eines Ausstiegs kippt? Damit rechnet derzeit noch kaum jemand. Heute setzen die Lobbyisten nicht mehr auf Ausgrenzung, sie setzen auf Vereinnahmung. Der Aargauer SP-Politiker Cédric Wermuth sagt: «Sie machen es clever, schicken dir Informationen, laden dich zu Podien und ihren Veranstaltungen ein.»

Der SP-Fraktion im Grossen Rat geht die Einflussnahme der Lobbyisten bis hinein in die kantonale Verwaltung zu weit. In einem Vorstoss kritisiert sie, dass alle bürgerlichen BundesparlamentarierInnen aus dem Aargau Teil dieser Lobby seien. Ebenfalls zu diesem Netzwerk rechnet sie den Aargauer FDP-Regierungsrat Peter C. Beyeler, ehemaliger Kader der Axpo-Vorläuferin NOK, und mehrere Grossräte. Sie vermutet, dass auch ChefbeamtInnen verfilzt sind. Lobbying sei zwar legitim, aber die «Aktivitäten, Strategien, Beeinflussungs- und Druckversuche der engmaschig vernetzten Atomlobby» sprengten jeden Rahmen.

Die «unabhängigen» Unternehmen Nagra, Ensi und das Paul-Scherrer-Institut arbeiteten ebenfalls der Atomwirtschaft zu, heisst es im SP-Vorstoss. «Das im Dienst der nationalen (und internationalen) Atomwirtschaft stehende PSI verleiht seinen zahlreichen, die Risiken der Atomenergie bewusst und systematisch verharmlosenden ‹Studien› und ‹Analysen› einen Höchstgrad an Wissenschaftlichkeit, der einer Überprüfung durch ein unabhängiges und neutrales wissenschaftliches Forschungsinstitut nie standhalten würde.» Die Standortgemeinden der AKWs werden mit «Ausgleichszahlungen» entschädigt. «Gekauft», sagt die SP.

Hans Hauri wartet auf dem Perron in Baden. Dank seiner Selbstbeschreibung ist er auf dem überfüllten Perron leicht zu erkennen: schwarzes Béret, dunkler Rucksack, weisser gestutzter Bart. Der Altphilologe und pensionierte Kantonsschullehrer engagiert sich seit Ende der siebziger Jahre gegen AKWs. Damals bestimmten BBC (heute ABB), die Nordostschweizerische Kraftwerke AG (NOK, heute Axpo), Motor Columbus und die Nagra die AKW-Atmosphäre der Stadt. Trotz dieser Atmosphäre hatte Hans Hauri wegen seines Engagements keine direkten Nachteile in Kauf zu nehmen. Damals brauchte es allerdings mehr Mut, sich offen gegen die Atomwirtschaft zu stellen. «Ich erinnere mich an einen Theologen, der uns eine Spende zukommen liess. Wir mussten ihm versprechen, dass es nicht nach aussen dringt.» Das «Badener Tagblatt» und seine Nachfolgerin «AZ» ersetzten bis vor kurzem in Leserbriefen AKW durch KKW (Kernkraftwerk). «Das ist heute alles viel lockerer», sagt er.

Mehr Mut gebraucht

Hans Hauri führt mich vom Bahnhof vorbei am Casino, das mitten in einem grossen Park mit alten mächtigen Bäumen steht. Gegenüber dem ehemaligen Kurhaus befindet sich der Sitz der Axpo. Baden liegt zwischen idyllischen Hügeln, zwölf Thermalquellen sprudeln hier, vermutlich genossen schon die Kelten ihre Vorzüge. Die Römerstrasse hinauf geht es zum Areal der ABB und der Alstom. Es ist früh, und die Menschen strömen zur Arbeit. Die Übergewänder sind verschwunden, dennoch erinnert dieses Bild an alte Filme und Fotos aus der Hochblüte des Industriezeitalters. Als die Firma noch BBC hiess, war das Areal aus Angst vor Werkspionage noch eine geschlossene kleine Stadt in der Stadt.

Dort, wo das Tor stand, öffnet sich heute ein Platz. Gegenüber liegt das Restaurant Löwen, wo die SP ihre Versammlungen abhielt und die ArbeiterInnen nach Arbeitsschluss ein Bier tranken und debattierten. Wie gesagt, direkte Nachteile hat Hans Hauri nie gehabt wegen seines Engagements. Aber dann rückt er doch noch mit einer Geschichte heraus: Als seine Frau und er in einem dörflichen Vorort Badens auf einem Haus, das sie gekauft und hergerichtet hatten, Sonnenkollektoren montieren wollten, verwehrte ihnen die Gemeinde die Bewilligung. Die Kollektoren stehen immer noch unbenutzt im Garten. Das ist im Kanton Aargau kein Einzelfall.


Mahnwachen vor dem Ensi

Vor dem Büro des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (Ensi) im aargauischen Windisch-Brugg wird seit bald acht Wochen protestiert. Die Mahnwachen, von AnwohnerInnen organisiert, finden jeweils werktags von 17 bis 18 Uhr statt. Laut Mitorganisator Heini Glauser sind die Mahnwachen ein Erfolg: «Vor dem Ensi hat sich ein Treffpunkt der nicht ganz konformen AargauerInnen etabliert. Es kommen immer wieder neue Leute dazu, von ganz Jungen bis hin zu Siebzig- und Achtzigjährigen.»

Insgesamt sind es rund sechzig Personen, die an den Mahnwachen teilnehmen. Am 5. Mai, dem Tag der Ensi-Pressekonferenz zur Sicherheit der Schweizer AKWs, waren es rund dreissig Leute. Die Einschätzungen des Ensi zeigen den Protestierenden, dass sie dranbleiben müssen. Glauser: «Wir bleiben, bis sich das Ensi glaubhaft um unsere Sicherheit bemüht, sprich bis das erste alte AKW der Schweiz stillgelegt wird.»