AKW-Notfallszenarien: «Dann würde nachher eine ganze Region fehlen»
Wenn in der Schweiz ein Unfall wie in Fukushima Daiichi passieren würde, müsste der Grossraum um Zürich – respektive um Bern – geräumt werden. Kim Kuhn, in der Region um Leibstadt und Beznau zuständig für die Evakuierung, schildert, mit welchen Problemen er rechnet.
Man hat ein leichtes Rauschen in den Ohren, einen feinen, lästigen Druck in den Schläfen. Das kommt vom vielen Beton rundherum, die Decken und Wände sind monströs dick. Es herrscht beklemmende Stille im Zivilschutzkeller in Leibstadt. Ein fast schon sakraler Ort, der mit Hingabe gepflegt wird und mit allem ausgestattet ist, damit man überleben kann, falls die Welt in Brüche geht.
Kim Kuhn ist Chef des Regionalen Führungsorgans (RFO) Aare-Rhein und damit Herr über die unterirdische Kommandozentrale, die in diesem Zivilschutzkeller untergebracht ist. Früher war Kuhn Berufsoffizier, und er kennt sich mit Atomgefahren bestens aus. Inzwischen lebt er im unteren Aaretal und betreibt ein Beratungsbüro. Kuhns RFO wäre gefordert, falls in den Reaktoren von Beznau I und II oder im AKW Leibstadt ein Unfall wie in Fukushima passieren sollte.
«Beim ersten Sirenengeheul geschieht gar nichts, weil alle glauben, das sei ein Fehlalarm», sagt Kuhn. Danach ist der Teufel los. «Dann bricht sofort das Telefonnetz zusammen», weil alle wissen wollen, wie es ihren Liebsten geht. Deshalb kappe der Bund in einer solchen Situation die Telefonleitungen: «Wir von der RFO verfügen über privilegierte Handynummern, wir werden noch telefonieren können.»
Kuhns Gebiet erstreckt sich über rund sechzig Quadratkilometer. 15 000 Menschen wohnen darin. «Ein Teil der Leute wird sich sicher so schnell wie möglich wegbewegen», sagt Kuhn. Er nennt sie die Selbstweggeher. «Raus lassen wir alle. Man darf und soll gehen. Aber rein sollte man nicht mehr.» Bis rauf nach Würenlingen würde in einem Fünf-Kilometer-Radius um die Atomanlagen eine Sperrzone errichtet. Es werde aber immer Leute geben, die zurückwollten, man solle den Willen der Leute, ihr Hab und Gut zu schützen, nicht unterschätzen, sagt Kuhn. Ursprünglich habe man gedacht, man werde jedes Strässchen kontrollieren. Davon ist man abgekommen: «Wir würden noch patrouillieren, mehr nicht. Wenn jemand bewusst reinwill, wird er es ohnehin schaffen.»
«Und was geschieht mit den Leuten, die nicht wegwollen?»
«Das gibt es immer wieder. Ältere Menschen, die zum Beispiel ihre Haustiere nicht im Stich lassen wollen.»
«Was wäre mit den Haustieren?»
«Wir wären nicht in der Lage, alle mitzunehmen. Sie müssten sie zurücklassen. Das ist eine ganz grosse Problematik. Es gibt viele Leute, denen ist ihr Haustier wichtiger als ihre Gesundheit.»
Drei naive Szenarien
Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) hat eine klare Vorstellung, wie ein schwerer AKW-Unfall ablaufen würde. Das Drehbuch sieht wie folgt aus: In einem AKW passiert etwas Unvorhergesehenes, ein sogenanntes Ereignis, der Reaktor überhitzt sich. An diesem Punkt informiert der AKW-Betreiber die Sicherheitsbehörden, wonach der Bund eine «Warnung» herausgibt. Das wäre der Moment, in dem Kim Kuhns RFO im Schutzraum in Leibstadt aktiv würde.
Das Ensi hat sich konkret drei Szenarien ausgedacht, die es 2006 publizierte. Szenario A1 geht vom harmlosesten Verlauf aus, keine Strahlung geht raus. Szenario A2 rechnet damit, dass der Kern ein bisschen kaputtgeht. Im Containment, der Schutzhülle um den Reaktor, steigt der Druck, man muss deshalb die Gase, die sich darin angesammelt haben, irgendwann ablassen – zu diesem Zweck macht man ein sogenanntes Venting, wie wenn man beim Dampfkochtopf auf das Ventil drückt und der Dampf herauszischt. Dadurch gelangen grössere Mengen radioaktiver Gase in die Umgebung. Weil man dies menschenfreundlich abwickeln möchte, plant man das Venting so, dass die Leute aus der betroffenen Zone weggebracht werden können, bevor man den Dampf herauslässt. Mit komplexen Computerprogrammen wird errechnet, wohin Wind und Wetter zum geplanten Zeitpunkt die strahlende Fracht tragen werden. Aufgrund der Berechnungen würde festgelegt, welche Sektoren der Zwanzig-Kilometer-Zone vorsorglich evakuiert werden müssten. Das Szenario sagt auch, dass die Freisetzung nach sechs Stunden beginnt und höchstens acht Stunden dauern wird. Szenario A3 stellt die schlimmste Variante dar, die sich die Atombehörde vorstellen will. Es geht davon aus, dass das Venting nicht richtig funktioniert und eine grössere Menge Radioaktivität nach draussen gelangt. Ansonsten bleibt alles gleich wie bei Szenario A2. Es verlassen nur radioaktive Edelgase und Jod das AKW. Die übleren Radionuklide wie Cäsium oder Strontium, die ein Gebiet während Jahren unbewohnbar machen können, bleiben gemäss diesem Szenario tunlichst im Reaktor.
Bei allen drei Szenarien wurde fleissig gerechnet, um eine imposante Illusion aufzubauen, die neben der Realität naiv wirkt. In Fukushima fanden nicht eine, sondern gleich mehrere Freisetzungen statt. Es gab sicher ein Venting, es wurde aber auch sehr viel Cäsium freigesetzt – über weite Teile des Landes. Die schlimmste Wolke zog am 15. März übers Land, vier Tage nach dem «Ereignis». Niemand wurde gewarnt, obwohl die Behörden schon einige Daten hatten und mit ähnlichen Computerprogrammen arbeiteten wie das Ensi. Zum Teil wurde die Bevölkerung nicht informiert, weil man fürchtete, Panik würde ausbrechen. Zum Teil, weil im Chaos die Kommunikation nicht funktionierte. Nicht einmal Jodtabletten wurden verteilt.
Wer räumt hier auf?
Was wäre bei einem Unfall, der das Ausmass von Tschernobyl hätte? Dort hatte es vermutlich den grössten Teil des Reaktorkerns hinauskatapultiert, Brocken der Brennstäbe lagen im Freien herum. Bis zu 800 000 Mann waren am Ende mit den Aufräumarbeiten beschäftigt. Wer würde das in der Schweiz tun? Die sowjetische Regierung hat den Soldaten damals den Einsatz befohlen. Niemand konnte sich drücken. Das war brutal, aber hilfreich, um die Katastrophe einzudämmen. Wie wäre das bei uns? Kim Kuhn schaut einen bei diesen Fragen direkt an und sagt, ohne zu zögern: «Würde in Leibstadt ein Unfall passieren wie in Tschernobyl, fehlte nachher eine ganze Region. Das Gebiet würde es auf der Landkarte nicht mehr geben.»
«Ich sage es ganz ehrlich», fährt er fort, «wenn in Leibstadt wirklich ein Unfall mit grosser Freisetzung stattfände – dann würde man einen Zirkel nehmen, einen Kreis darum ziehen und sagen: Da geht niemand mehr rein! Wir gehen nicht mal mehr rein, um den Leuten zu helfen. Wir werden sie dem Schicksal überlassen. Wir können nur denen helfen, die aus eigenen Kräften herauskommen.» Darüber hätten sie in der RFO heftig diskutiert, er sei immer der Meinung gewesen, dass man offen darüber reden müsse: «Es ist brutal, sich einzugestehen, dass man nichts mehr machen kann, aber wenn ein solches Ereignis passiert, ist man hilflos.»
«Würde man Soldaten zwangsverpflichten?»
«Das kann ich mir nicht vorstellen. Das bräuchte ja fast Kriegsrecht. Was tut man, wenn sich die Leute weigern zu gehen? Wohl kaum standrechtlich erschiessen.»
Er könne sich auch vorstellen, dass fünfzig Prozent seiner Kaderleute nicht in den Einsatz kommen würden. Damit müsse man sich auseinandersetzen: «Ich bin nicht einmal sicher, ob ich selbst käme, wenn es wirklich passiert. Ich habe zwar mit meiner Frau darüber gesprochen, und wir haben abgemacht, dass sie mit den Kindern geht und ich meinen Job hier mache. Aber wenn es wirklich so weit ist, weiss man nie, wie man reagiert.»
Gewisse Dinge könne man nicht üben, und ein Ernstfall sei anders als eine Übung. «Übungen dauern nie länger als einen Tag. Dann sind alle müde und erschöpft – aber nach 24 Stunden wäre es nicht vorbei, im Gegenteil, dann würden die grossen Probleme erst beginnen. Was tun wir mit den Leuten, wenn die Evakuierung Wochen oder Jahre dauert? Das ist alles noch nicht zu Ende gedacht.»
Mühleberg vom Netz?
Aus Sicherheitsgründen darf das AKW Mühleberg nur noch bis Juni 2013 weiterlaufen. Dieser Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts wurde am Mittwoch kurz vor Redaktionsschluss bekannt. Das Gericht zweifelt an der Sicherheit des Kernmantels: Er hat Risse, die mit Zugankern mangelhaft gesichert sind. Auch bei der Erdbebensicherheit und bei der Kühlung des Kraftwerks stellt das Gericht Mängel fest.
Will der Stromkonzern BKW das AKW länger betreiben, muss er dem Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) ein Gesuch mit einem Instandhaltungskonzept vorlegen. Die BKW kann den Entscheid vor Bundesgericht anfechten.
Nachtrag von 16. August 2012 : Mühleberg und Jod
Am Dienstag gab das Berner Energieunternehmen BKW sein neues Instandhaltungskonzept für das AKW Mühleberg bekannt. Es will 170 Millionen Franken investieren, um die Anlage bis 2022 betreiben zu können. Der Kernmantel hat schon Risse, nun droht weiteres Ungemach: Der Reaktordruckbehälter – der Kessel mit den Brennelementen – könnte ebenfalls Risse aufweisen. Beim belgischen Reaktor Doel 3 fand man solche Risse, die Anlage wurde bis auf Weiteres stillgelegt. Offenbar ist fehlerhafter Stahl dafür verantwortlich. Der Behälter stammt von einer belgischen Firma, die auch den Behälter nach Mühleberg geliefert hat. Zurzeit steht das AKW Mühleberg wegen der jährlichen Revision still, man wird vermutlich den Druckbehälter mit Ultraschall überprüfen müssen.
Ebenfalls diese Woche räumten die Behörden gegenüber Radio DRS ein, dass die Versorgung mit Jod in der Schweiz nicht klappen würde. Bei einem schweren Atomunfall tritt radioaktives Jod aus, das Schilddrüsenkrebs verursacht. Die rechtzeitige Einnahme von Jod würde die Bevölkerung schützen. Nur weiss man nicht, wie man die Leute ausserhalb der Notfallschutzzonen rechtzeitig mit Jod bedient. Die Post hätte das tun sollen, ist dazu aber nicht in der Lage. Bis im nächsten Sommer soll ein neues Jodverteilkonzept vorliegen.
Susan Boos