Theaterfestival : Wenn ein Teil des Publikums gehen muss

Nr.  20 –

Fliegende Haie, wahnsinnige Henker, sympathische PolitikerInnen und eine neue Demokratie. Beim Theaterfestival Auawirleben in Bern wurde wieder dem politischen Theater gehuldigt – und wie!

Und plötzlich drehen die bunten Wichtel durch: Miet Warlops Inszenierung «Mystery Magnet» am Theaterfestival Auawirleben. Foto: Reinout Hiel

«Versteh ich nicht. Dass die Gesellschaft, in der wir leben, schmarotzt von unserer Hände Schweiss, wusste ich schon als sechsjähriger Junge, wenn ich morgens um fünf Uhr aus dem Bett gerissen wurde, um Semmeln auszutragen», moniert die Figur Albert Kroll in Ernst Tollers (1893–1939) Stück «Hoppla, wir leben!». Erarbeitet hat er selbiges 1927 zusammen mit einem Vordenker des politischen Theaters, Erwin Piscator (1893–1966). Eine Hommage an ihre Art, Theater zu denken – nichts weniger und viel mehr will das Theaterfestival Auawirleben in Bern. Nicht nur zeitgenössisch, nein, politisch soll es dabei zugehen. Kein bloss gegenwärtiges Theater, sondern «Theater, das sich auf die Gegenwart einlässt».

Eine Kämpferin für das freie Theater, Trix Bühler, die im letzten Jahr verstarb, war von Anfang an an diesem Projekt beteiligt gewesen. Später hatte sie zusammen mit der Bernerin Nicolette Kretz die Leitung übernommen. Ihr Ziel war von Beginn an gewesen, politische Glanzstücke aus aller Welt nach Bern zu holen. Unter dem Titel «Leave the winning Team» ging das Festival dieses Jahr in seine 33. Runde. Das erste Mal ohne Trix Bühler.

Doch der Anspruch an die Inszenierungen ist geblieben: Sie dürfen unterhalten, aber, um Brechts Willen, nicht nur! Den Stücken gemein ist, dass sie Fragen aufwerfen. Wenn nicht über die Welt als ganze, dann über jede einzelne im Publikum. Die Bühne wird erweitert, soll in jedem Anwesenden sich anders aufbauen, die passive Betrachterrolle sich mit jeder Sekunde verflüchtigen. Die Erzählung darf nicht auf den Holzbrettern, nicht «da vorne» verbleiben.

Das Spiel mit den Affekten

Eröffnet hat das Festival dieses Jahr die Belgierin Miet Warlop mit ihrer Inszenierung «Mystery Magnet». Ein seltsames Stück, bunt und wild, absurd komisch und tragisch. Es beginnt wie viele politische Erzählungen: mit einem fettleibigen weissen Mann im Scheinwerferlicht. Der Mann, vermutlich ein Wachmann, setzt sich auf einen Stuhl – das bis dahin einzige Requisit des sterilen Bühnenbilds. Er bläst Ballons auf, formt in aller Ruhe Figuren daraus. In die humoristisch gespannte Stille hinein trippelt eine Figur in High Heels und engem Kleid, der obere Teil ihres Körpers und ihr Gesicht komplett von einer riesigen schwarzen Wuschelperücke verdeckt.

Die Ruhe des Wachmanns ist gestört. Wie könnte er, diese grosse Einsamkeit, die da sitzt, die Anwesenheit dieses Frauenwesens auch ignorieren? All seine Versuche, sie einzufangen, sie an sich zu binden, scheitern – und irgendwann bricht eine bunte Hölle auf der Bühne los. Da reitet eine Frau im bodenlangen Kleid auf einem nackten Mann, dem sie einen Pferdeschweif um die Hüften gebunden hat. Da laufen Figuren mit pinken, gelben und blauen Wuschelperücken Amok, versauen die Bühne, die anderen und sich selbst, da prasseln Dartpfeile auf den Boden und fliegen Plastikhaie durch die Luft.

Es sind fünfzig Minuten, in denen kein Wort gesprochen wird – Miet Warlop arbeitet nur mit Bildern. Dass angesichts dieser Szenenflut bei jedem eigene Geschichten entstehen, die auch ein schnelles Ende finden, ist klar. Vor allem aber spielt Warlop über das Visuelle mit den humoristischen Affekten des Publikums. Die bunten Wichte, der enorm fette Mann und seine Bewegungen, die vielen Farben, die verspritzt werden, all das ist irgendwie komisch. Das Publikum lacht. Es lacht, während der Dicke in Einsamkeit vergeht und schliesslich stirbt, während ein Perückenwichtel einen anderen mit dem Tacker an die Wand kreuzigt und ihm den Bauch aufschneidet, um ihm die Eingeweide herauszureissen. Es lacht, während der nächste, auf allen vieren auf dem Boden kriechend, immer wieder Farbe kotzt.

Und irgendwann zwischendrin muss es kippen, dieses Amüsement des Einzelnen, und die Bühne wird im Geist zum Kriegsschauplatz, die Farbenpracht zu Blut, die bunten Wichtel zu wahnsinnigen Henkern, zu hingeschlachteten Opfern. Und das funktioniert. Mit ihrer Bildsprache kann sie das, diese Miet Warlop – verzaubern, um zu entzaubern.

Kluge Subtilität

Voller Worte hingegen sind die ProtagonistInnen in «Fight Night», einem Stück der ebenfalls aus Belgien stammenden Gruppe Ontroerend Goed. Sie machen die Bühne zum Schauplatz eines Kampfs um Wählerstimmen. Fünf KandidatInnen stehen zur Auswahl, in fünf Runden kann das Publikum via Knopfdruck seine Stimme abgeben. Die KandidatInnen überzeugen dabei nicht durch ausgefeilte Politprogramme, sondern durch Rhetorik, Sympathie und Strategie. Das klingt erst einmal nach einem heiteren Theaterabend, der das Castingshowformat auf die Schippe nehmen will. Doch auch hier tritt das Publikum in einen Dialog mit den eigenen Verhaltensweisen.

Warum wählen wir jemanden? Ab wann wählen wir jemanden, weil er einfach das kleinere Übel ist oder weil es keine Alternative gibt? Wie schnell sind wir bereit, sehr viel über uns selbst zu verraten? Wählerfang und Abstimmung werden immer mehr zu einem Netz aus Manipulation und Resignation, das sich um die RezipientInnen spinnt. Die Teilnahme des Publikums geht über die Stimmabgabe hinaus. Auch hier gelingt das, und auch hier mit Humor. Irgendwann taucht die Option auf, gar nicht zu wählen. Doch weil Ontroerend Goed sehr genau wissen, was sie da tun, ist damit nicht der Endpunkt erreicht. Dieser ereignet sich für einige in dem Moment, in dem darüber entschieden wird, ob diejenigen, die sich offen zum Nichtwählen bekannt haben, den Saal verlassen müssen. Auch darüber wird abgestimmt. Und ja, wir mussten den Saal verlassen.

Auch der Schweizer Christophe Meierhans hat es auf unser Wahlverhalten abgesehen. Zwei Jahre lang hat er mit Spezialisten weltweit an einer alternativen Demokratieform getüftelt. Daraus entstand das Stück «Some use for your broken claypots» sowie eine Verfassung. Das Zauberwort, das Meierhans euphorisch aus dem eloquenten Mund sprudelt, ist «Disqualifikation». Durch ein ausgeklügeltes System gelangen Personen in ihre politischen Ämter. Ein Clou dabei ist, dass jeder Bürger und jede Bürgerin einmal im Jahr ein Disqualifikationsvotum gegen diese Person abgeben kann. Erreichen diese Stimmen mit der Zeit hundert Prozent, wobei es auch reicht, wenn fünfzig Prozent der Bevölkerung zwei Jahre hintereinander disqualifizieren, dann hat die Person ihr politisches Amt verloren.

Meierhans hat, ausgehend von diesem Prinzip, ein erstaunlich ausgefeiltes System entwickelt. Das Stück lebt aber weniger von seinem Vortrag und seinen hübschen Folien, sondern von Fragen aus dem Publikum. Würde das System nicht immer wieder kritisch hinterfragt, wäre das Ganze eine etwas laue Inszenierung. Dennoch: Meierhans weiss auf die meisten Fragen tatsächlich überzeugend zu antworten; er glaubt an dieses System, zumindest als versuchswürdiges Experiment. Seine Hauptarbeit auf der Bühne ist, das Publikum zu überzeugen. Auch das gelingt stückweise. Zumindest erweitert sich zwangsläufig die eigene Vorstellungskraft über das, was nicht nur utopisch, sondern wirklich möglich ist.

«Aus Mangel an Phantasie erleben die meisten Menschen nicht einmal ihr eigenes Leben, geschweige denn ihre Welt. Sonst müsste die Lektüre eines einzigen Zeitungsblattes genügen, um die Menschheit in Aufruhr zu bringen. Es sind also stärkere Mittel nötig. Eins davon ist das Theater», so lautet ein Zitat aus dem «Programm der Piscatorbühne». Es hat kaum an Aktualität eingebüsst. Wo bleibt der Aufruhr? All die Bildschirme und Newsticker – irgendwie hat sich unser geistiger Verdauungsapparat daran gewöhnt. Die Unmittelbarkeit des Theaters ist und bleibt seine stärkste Waffe. Dabei hat kluge Subtilität den Platz reiner Provokation eingenommen. Aber auch ein Nieselregen lässt uns auf Dauer durchnässt und verunsichert zurück: Hoppla, wir leben!