Türkei: Die Autokratie ist abgewendet
Noch nie waren die KurdInnen in der Türkei politisch so stark wie jetzt nach den Parlamentswahlen. Die Chancen auf einen Frieden mit der PKK sind gestiegen.
Der Verlierer ist verschwunden. Sechs Wochen lang gönnte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan keine Ruhepause. Jeden Tag trat er irgendwo im Land auf, oft sogar mehrfach. Als Staatsoberhaupt eigentlich zur Neutralität verpflichtet, brüllte er dennoch in die Mikrofone, warb für die AKP-Regierungspartei und für seine «neue Türkei» – mit ihm als allmächtigem Oberhaupt. Doch nach der Parlamentswahl vom Sonntag ist er in der Öffentlichkeit weitgehend verstummt.
Der Sieger hingegen geniesst das politische Erdbeben. Selahattin Demirtas, Kovorsitzender der prokurdischen Oppositionspartei HDP, hat die Machtfantasien des Präsidenten vorerst zerstört. Eine «Diktatur» sei zu ihrem Ende gekommen, sagte der 42-Jährige nach der Wahl.
Die Parlamentswahlen haben die Alleinherrschaft der AKP beendet. Zwar ist die islamisch-konservative Partei mit 41 Prozent weiterhin die klar stärkste Kraft im Land, doch kann sie nicht mehr alleine regieren und schon gar nicht im Alleingang eine Verfassungsänderung beschliessen und ein Präsidialsystem einführen. Die Opposition wurde gestärkt. Das liegt vor allem am Abschneiden der HDP: Die linke Partei hat mit rund 13 Prozent die Zehn-Prozent-Hürde überwunden. Es ist damit das erste Mal überhaupt, dass einer prokurdischen Partei so etwas gelingt.
Schon bald Neuwahlen?
Der Soziologe Bülent Kücük erklärt den Erfolg der HDP unter anderem damit, dass die AKP im vergangenen Jahr tatenlos dabei zusah, wie die kurdische Stadt Kobane im Norden Syriens von den Dschihadisten des Islamischen Staats überrannt wurde. «Die Menschen haben gesehen, dass sich die AKP nicht mit den Kurden in Rojava solidarisieren will», so Kücük, der an der Istanbuler Bogazici-Universität unterrichtet. Deswegen hätten auch kurdische AKP-SympathisantInnen diesmal die HDP unterstützt.
Nach dreizehn Jahren Alleinregierung muss die AKP nun einen Koalitionspartner finden oder eine Minderheitsregierung bilden. Sollte dies nicht innert 45 Tagen gelingen, kann Präsident Erdogan Neuwahlen ausrufen – eine Option, die schon am Wahlabend durchgespielt wurde. Die AKP könnte dabei versuchen, mit einer nochmals verstärkten Klientelpolitik Terrain zurückzugewinnen. Dass es zu einer Koalition unter Führung der AKP kommt, scheint bislang wenig wahrscheinlich. Alle möglichen Bündnispartner haben das ausgeschlossen.
Der Erfolg der HDP ist ein historischer Moment, denn noch nie zuvor waren die KurdInnen in der Türkei politisch so stark, wie sie es jetzt sind. Das Ausmass der Veränderung wird deutlich, wenn man sich an eine legendäre Szene von 1991 erinnert: Die kurdische Abgeordnete Leyla Zana, die es über die Liste der SozialdemokratInnen ins Parlament geschafft hatte, sprach ihren Amtseid auf Türkisch, fügte dann aber in kurdischer Sprache hinzu: «Es lebe die türkisch-kurdische Brüderschaft», während die anderen ParlamentarierInnen sie ausbuhten. 1994 wurde ihr und sechs weiteren kurdischen FraktionskollegInnen unter anderem deswegen die parlamentarische Immunität entzogen.
Heute ist so etwas undenkbar, auch dank der AKP, die in den letzten Jahren den KurdInnen zahlreiche Rechte eingeräumt hat. So gibt es inzwischen kurdischsprachige Medien, und kurdische Dialekte können problemlos auf der Strasse gesprochen werden. Der Kraftschub ist aber auch Demirtas zu verdanken, der die HDP zu einer regierungskritischen Basisbewegung aufgebaut hat. Die HDP kümmert sich nicht nur um die KurdInnen, sondern setzt sich generell für Minderheiten ein. Auch will sie etwa den Mindestlohn erhöhen und die Stellung der Frauen stärken.
PKK-Verhandlungen in der Schwebe
Demirtas verkündete noch am Wahlabend: «Die Türkei ist die HDP, und die HDP ist die Türkei.» Dennoch: Die politischen und historischen Gräben sind tief. Denn im jahrzehntelangen Kampf der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gegen die türkischen Sicherheitskräfte wurden mehr als 40 000 Menschen getötet, PKK-Chef Abdullah Öcalan bleibt in Haft, und die 2012 initiierten Friedensgespräche der Regierung mit dem Kurdenführer sind ins Stocken geraten.
Die HDP, so der Soziologe Kücük, sei bereit, die Verhandlungen fortzuführen. «Doch es fehlt an einem konkreten Ansprechpartner, den die Kurden seit langem einfordern, und der ist momentan auch nicht in Sicht.» Zwar werden gelegentlich Bilder von den Verhandlungen in der Öffentlichkeit gezeigt, doch tatsächlich gibt es keinen offiziellen Entsandten der Regierung, und über die Inhalte wird weitgehend geschwiegen. Dennoch seien die Chancen erfolgreicher Verhandlungen nun erhöht, «weil die HDP im Parlament sitzt», glaubt Kücük. Der Aussöhnungsprozess habe bei der HDP Priorität.
Wohin sich die Türkei nun bewegt, bleibt vorerst unklar. Die Niederlage werde Erdogan nicht kampflos hinnehmen, ist der britische Türkeiexperte Gareth Jenkins überzeugt. «Er wird weiterhin versuchen, Macht anzuhäufen. Und wir werden keine politische Stabilität erleben.» Dennoch glaubt Jenkins, dass bereits mit den landesweiten Gezi-Protesten vor zwei Jahren das Ende der Ära Erdogan begonnen habe. «Aber es könnte eine lange Endphase werden.»