Türkische Justiz: Der Mann, vor dem sich Erdogan fürchtet
Der HDP-Kovorsitzende Selahattin Demirtas, das Gesicht einer progressiven Türkei, sitzt seit acht Monaten im Gefängnis. Seine Partei ist schwer angeschlagen – und gibt sich dennoch kämpferisch. Stimmen aus der kurdischen Metropole Diyarbakir, wo sich viele an vergangen geglaubte düstere Zeiten erinnert fühlen.
Nach knapp dreissig Minuten ist die Anhörung in einem schmucklosen Saal des Strafgerichtshofs von Diyarbakir schon wieder zu Ende. Der Richter hatte teilnahmslos in dicken Akten geblättert, die Verteidigung von Selahattin Demirtas in Abwesenheit des Angeklagten Beweisstücke präsentiert und an den Rechtsstaat appelliert, der Gerichtsschreiber akribisch Protokoll geführt. Schliesslich wurde der Prozess vertagt, der nächste Termin ist im Dezember. Zumindest in diesem Verfahren, das nur eines von vielen ist. Denn die Staatsanwaltschaft, die an diesem Junitag nicht im Gerichtssaal anwesend ist, erhebt zahlreiche Vorwürfe gegen den Kovorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP), von «Beleidigung der türkischen Nation» über «Terrorpropaganda» bis zu «Anstachelung zur Gewalt». Wegen Letzterem sitzt der kurdische Politiker seit November 2016 im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne in Untersuchungshaft.
Lebenslange Haft?
Die Anklageschrift entbehre jeder juristischen Grundlage, sagt einer von Demirtas’ Anwälten wenige Stunden vor dem Prozess. Als Beweismittel dienen der Staatsanwaltschaft Erklärungen vor der Presse und Ansprachen im Parlament. Alles Aussagen von Demirtas, dem Politiker. Dafür dürfe man ihn nicht anklagen, sagt der Anwalt. Doch ein demokratischer Rechtsstaat ist die Türkei längst nicht mehr. Nimmt man alle Anklagepunkte zusammen, könnte Selahattin Demirtas lebenslang hinter Gittern bleiben.
Hinter dem zynischen Spiel steckt Taktik: den Gefangenen zermürben, den Widerstand brechen. Deshalb ist Demirtas auch nicht in seiner Heimatstadt Diyarbakir inhaftiert, müssen seine Ehefrau und die beiden Töchter regelmässig die 1500 Kilometer Fahrt an die griechische Grenze auf sich nehmen. Aus diesem Grund hatten die Behörden auch Demirtas’ Bitte, sich in Diyarbakir selbst zu verteidigen, ignoriert. Gestattet wurde lediglich eine Videoübertragung – wohl auch aus Angst vor kämpferischen Reden, öffentlichkeitswirksamen Bildern. Demirtas gilt als brillanter Redner. Die türkische Führung hat schon mehrfach bewiesen, wie sehr sie ihn fürchtet.
Das Erbe von Gezi
In den acht Monaten seiner Haft ist Selahattin Demirtas zur wohl prominentesten Geisel des türkischen Justizsystems geworden. Und er ist Recep Tayyip Erdogans persönliche Geisel. Weil er und seine Partei all das verkörpern, was dem Präsidenten zuwider ist. Als Demirtas 2014 zusammen mit Figen Yüksegdag den Vorsitz der HDP übernahm, wurde aus einer hauptsächlich kurdischen Partei ein Sammelbecken für Kurdinnen und Türken, Muslime und Armenierinnen, Linke und Liberale. Die urbane Mittelschicht in Izmir oder Istanbul unterstützte die Partei genauso wie Feministinnen und LGBT-Aktivisten. Nicht zuletzt ist die HDP auch das Erbe von Gezi, jenem farbenfrohen Protest, der so viele TürkInnen hatte hoffen lassen.
Mit Demirtas und Yüksegdag hat die Partei geschafft, was ihren kurdischen Vorgängern – zumindest in der allgemeinen Wahrnehmung – nie gelang: als mehrheitlich kurdisch geprägte Partei die Interessen einer breiten Bevölkerungsschicht zu vertreten. Entsprechend war ihr Erfolg auch in gewisser Weise eine Emanzipation von der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Auch wenn deren inhaftierter Anführer Abdullah Öcalan die Gründung der HDP absegnete: Umgesetzt hat sie Demirtas. Er wurde zum Hoffnungsträger in einem gespaltenen Land, zum Aushängeschild einer progressiven Türkei.
Fragt man Anhänger und Mitstreiterinnen nach Demirtas, schwingt in der Antwort stets Bewunderung mit. Ein integrer und charismatischer Politiker sei er, heisst es aus Diplomatenkreisen. Ein überzeugter Humanist, der die Prinzipien, die er predige, auch selbst lebe, sagen langjährige Weggefährten in Diyarbakir. Ein intelligenter und aufrichtiger Mensch, der auch unter den widrigsten Umständen niemals aufgebe. Nicht ein böses Wort über den Politiker. Ähnlich spricht auch Aygün Demirtas, die Schwester, die Demirtas als Anwältin vor Gericht vertritt. Auf die Frage nach ihrem prominenten Bruder steigen ihr in einem kargen Raum der Anwaltskammer von Diyarbakir Tränen in die Augen. «Selahattin ist nicht nur mein Bruder, er ist auch mein bester Freund.»
Im Juni 2015 zog die HDP mit sensationellen dreizehn Prozent ins Parlament ein. Wenige Monate zuvor hatten Vertreter der Partei mit der Regierung einen Fahrplan zur Beendigung des Konflikts unterzeichnet, hatte Öcalan die PKK aufgefordert, ihre Waffen niederzulegen. Als Demirtas ankündigte, Erdogan beim geplanten Präsidialsystem die Unterstützung zu verweigern, erklärte dieser den Friedensprozess für gescheitert. Seither ist die Lage eskaliert: Im Südosten des Landes geht die Armee gegen vermeintliche und tatsächliche PKK-KämpferInnen vor, die Guerilla verübte Anschläge auf Militärposten und Polizei. Mit voller Wucht ist der Krieg zurückgekehrt.
Erdogan liess die Parlamentswahl wiederholen, doch die HDP schaffte erneut die Zehnprozenthürde, die in den achtziger Jahren eingeführt worden war, um kurdischen Parteien den Weg ins Parlament zu versperren. Im Mai 2016 wurde die Immunität von beinahe allen HDP-Abgeordneten aufgehoben – unter tatkräftiger Mithilfe der kemalistischen CHP. Hätte sich die grösste Oppositionspartei gewehrt, wäre die Türkei heute vielleicht ein anderes Land. Inzwischen wurde ein CHP-Parlamentarier zu 25 Jahren Haft verurteilt.
Spätestens seit dem gescheiterten Militärputsch vor einem Jahr geht die türkische Führung mit aller Härte gegen RegimekritikerInnen vor, am schlimmsten betroffen sind die KurdInnen. Seither gilt im ganzen Land der Ausnahmezustand. Auch wenn die HDP – anders als einige ihrer Vorgängerinnen – bisher nicht verboten wurde: Neben den beiden Kovorsitzenden sind mehrere Abgeordnete in Haft, über achtzig BürgermeisterInnen sind abgesetzt und inhaftiert worden, ihre Städte stehen jetzt unter Zwangsverwaltung der AKP. Tausende Parteimitglieder sind verhaftet worden, viele mehr haben ihren Job verloren. Für sie alle (wie auch für die als Gülen-AnhängerInnen Verhafteten) gilt der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer Terrorvereinigung.
Panzer statt weisser Toros
Bei vielen KurdInnen wecken die Ereignisse der vergangenen Monate böse Erinnerungen: an die neunziger Jahre, als die Kämpfe zwischen dem türkischen Staat und der PKK eskalierten, als unzählige Menschen entführt und gefoltert, Hunderttausende zu Vertriebenen wurden. Die Angst von damals ist längst zurück. «Vor den Neuwahlen im November 2015 drohte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu mit einer Rückkehr der weissen Toros, wenn wir nicht für die AKP stimmen», erzählt ein älterer Kurde in Diyarbakir. In den neunziger Jahren fuhr der Geheimdienst des Militärs weiss lackierte Modelle der Automarke Toros. Wenn diese Autos in einem kurdischen Dorf auftauchten, standen Entführungen bevor. «Nun kommen statt der weissen Toros die Panzer der Armee.»
Wer dieser Tage durch Diyarbakir geht, kann die Militärfahrzeuge nicht übersehen. Hier ein Checkpoint, dort bewaffnete Soldaten. Auf den Plätzen ragen überdimensionale Masten, vollgehängt mit Überwachungskameras, in den Himmel. Besonders auffällig ist die Präsenz der Herrschaft in Sur, dem historischen Bezirk und Weltkulturerbe der Unesco, wo ein Teil der Altstadt nur noch aus Geröll und zerschossenen Häusern besteht, versteckt hinter Absperrungen. Was dahinter passiert, lässt sich nicht erkunden. Zwar scheint das Leben nach Sur zurückgekehrt: Händler bieten Wassermelonen feil, Buben verkaufen Krimskrams. Doch über allem hängt der Geist der Zerstörung.
«Erdogan will die Kurden vernichten», sagt Ahmet Türk ein paar Schritte von Sur entfernt in einer Hotellobby. Der ehemalige Bürgermeister von Mardin war selbst mehrfach im Gefängnis, zuletzt vor wenigen Monaten. Irgendwann liessen die Behörden den 74-Jährigen wegen Herzproblemen frei. «Wir leben in einem Polizeistaat», konstatiert er. Seit mehr als vierzig Jahren ist Türk Politiker, er sass jahrelang im Parlament. Ein Zeuge des über dreissigjährigen Kurdenkonflikts, mit Zehntausenden Todesopfern der die Situation so gut kennt wie kaum jemand. «Wie kann man von Demokratie sprechen, wenn ein Fünftel der Einwohner keine Rechte hat?», fragt er bitter.
Unter der jetzigen Regierung werde es keine friedliche Lösung geben, glaubt Türk. Und an Verhandlungen mit Öcalan werde man sowieso nicht vorbeikommen. Türk hat ihn mehrfach auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer besucht. Zum Verhältnis zwischen PKK und HDP sagt er: «Die illegale Bewegung hat eine viel längere Geschichte als die legale.» Wolle eine türkische Führung Frieden, liege der Schlüssel weiterhin bei Abdullah Öcalan.
Wie verwoben die beiden Organisationen sind, zeigt auch die Biografie von Selahattin Demirtas. Mit neunzehn beschloss auch er, in die Kandilberge zu ziehen, dorthin, wo sich das Hauptquartier der PKK befindet. So erzählte er es einmal dem Journalisten Deniz Yücel, der inzwischen selbst in einem türkischen Gefängnis sitzt. Der Kurier, der Demirtas abholen sollte, wurde verhaftet, Demirtas selbst angeklagt und freigesprochen. Statt zu kämpfen, beschloss er, sich politisch zu engagieren. Als sein Bruder für zwölf Jahre ins Gefängnis kam, die Familie nicht genug Geld für einen Juristen hatte, wurde Demirtas Menschenrechtsanwalt. Dann ging er in die Politik, der Bruder ist heute in den Bergen.
Macht der Vermittlung
Jetzt, wo die Parteiführung im Gefängnis ist, die meisten Abgeordneten ihre Immunität verloren haben: Wie geht es weiter mit der HDP? Nach aussen gibt sich die Partei kämpferisch. In Istanbul erzählt die Parlamentarierin Filiz Kerestecioglu von der Protestbewegung, die sich im Anschluss an das Verfassungsreferendum gebildet hat, von der Solidarität, die ihre Partei erfährt. «Die AKP will die Gesellschaft spalten», sagt sie. «Es wird ihr nicht gelingen.» Und in der Hotellobby in Diyarbakir meint ein paar Tage später Ahmet Türk: «Die HDP wird ihre Politik weiterführen, sie kann gar nicht anders.» Wie genau die schwer angeschlagene Partei weitermachen will, wie handlungsfähig sie tatsächlich ist, trotz aller Repressionen, bleibt in den Gesprächen offen.
Weniger hoffnungsvoll ist Türk im Hinblick auf den Krieg im Südosten. «Für Friedensgespräche, etwa unter der Schirmherrschaft der Uno, ist die Türkei nicht bereit, der Konflikt zwischen Regierung und PKK kann nur mit einer vermittelnden Kraft gelöst werden – beispielsweise mit einem neutralen Land wie der Schweiz.»