Holly Herndon: Ein Fall von Computerliebe

Nr. 27 –

Holly Herndon fahndet auf dem Album «Platform» nach einer elektronischen Musik, die neue Utopien formuliert. Nun spielt sie am Festival Belluard in Fribourg.

Auf der Suche nach einer elektronischen Musik der Möglichkeiten: Holly Herndon. Foto: Suzy Poling

Dies ist ein Liebeslied. Ein Lied für die spähenden Augen, die stets präsent sind – auch wenn man sich ganz allein in seinem Zimmer befindet, allein mit dem Laptop oder einer ähnlichen Verlängerung der eigenen Persönlichkeit. Ganz allein zu Hause und doch nicht Herr im eigenen Haus: Diesen Zustand beschreibt die US-Amerikanerin Holly Herndon in «Home», einem Song, gesungen für die Datensammler der NSA und auch für die Überwachten, die zart ermahnt werden, nicht ganz alles der virtuellen Cloud anzuvertrauen. «I feel like I’m home on my own and it feels like you see me», singt Herndon. Wie ihr Gegenüber aussieht, weiss sie nicht, aber sie weiss, dass «du mich besser kennst als ich mich selbst». Sie fragt: «Magst du, was ich für dich gemacht habe?», und schliesslich: «Ich weiss nicht, wie ich alleine sein kann.»

Kollaboration im Kreis

Der Lovesong verwandelt sich hier in das Trennungslied des vernetzten Zeitalters schlechthin, das spätestens mit den Enthüllungen Edward Snowdens durchgeschüttelt wurde. Im Video zum Song, konzipiert vom holländischen Kollektiv Metahaven, regnet es auf dem Bildschirm NSA-Icons, die wie Emojis gestaltet sind. Doch Herndon geht es nicht um die Trauer über eine verflossene Liebschaft oder gar um Nostalgie, es geht in ihrer elektronischen Musik um eine Neugestaltung der Gemeinschaft, des Internets und des Zusammenlebens: «Wir brauchen neue Fantasien, neue Archetypen, neue Strategien und neue Arten zu lieben», schrieb die US-Amerikanerin in ihrem Blog, als sie im Mai ihr zweites Album «Platform» veröffentlichte.

«Platform» ist, anders als noch ihr Debüt «Movement», kein Soloalbum. Herndon dient vielmehr als Avatar für ein Gemeinschaftswerk, das gemeinsam mit TheoretikerInnen, KünstlerInnen und SoftwareentwicklerInnen entstanden ist, mit Leuten wie etwa dem Designer und Strategen Benedict Singleton, auf dessen kollaborative Theorien der Titel des Albums zurückgeht, oder mit Claire Tolan, die für ihre Performances Entspannungsclips – sogenannte ASMR-Videos – als Quellmaterial benutzt: Webvideos, die mit vertrauten Geräuschen wie etwa dem Knistern beim Auspacken von Schokolade eine intime Nähe herstellen – wie es von Tolan im Track «Lonely at Top» simuliert wird.

Was den offenen Ideenkreis zusammenhält, ist der Laptop, Stube und Schaltzentrale gleichermassen für Herndon, die am Center for Computer Research in Music and Acoustics an der Elite-Uni in Stanford doktoriert und doziert: «Viele Leute beschweren sich, dass der Computer zu unverbindlich, zu unnatürlich und zu wenig emotional sei», sagte Herndon dem «Guardian». «Aber mein Laptop enthält so viel von meinem Leben: mein Bankkonto, meine E-Mails, meine Beziehungen.» Eigentlich sei der Computer ein hyperemotionales Instrument, das weit mehr Ausdrucksmöglichkeiten biete als beispielsweise eine Geige.

Wie ein offener Quellcode

Die musikalische Sprache auf «Platform» klingt radikal gegenwärtig: Wie Pop-up-Fenster blinken die Computersounds auf, Holly Herndons vielfach zerschnipselte Stimme, die melodiösen Klangpixel, die nah aufgenommenen Alltagsgeräusche und die komplexen, doch enorm physischen Beat-Architekturen kommen sich immer wieder in die Quere und lösen die Hierarchien der herkömmlichen Clubmusik auf. Nach und nach sind in dieser Disparatheit Popstrukturen auszumachen, am deutlichsten in der aktuellen Single «Morning Sun». Denn Herndon, die nach einer Jugend in Schul- und Kirchenchören in Berlin Trance und Techno entdeckte, will nicht im Ghetto der Experimentalmusik hängen bleiben. «Ich will die Leute erreichen», sagte sie in einem Interview mit dem Webmagazin «Fact» – nicht als Predigerin, sondern als Musikerin, die den Unterschied zwischen Intellekt und Emotion auflöse.

Auf «Platform» fahndet sie nach einer elektronischen Musik der Möglichkeiten, die sich nicht nur in den vielversprechenden Rausch einer Clubnacht flüchtet, sondern wieder Utopien und politische Ideen formuliert. «Unequal» ist so ein Track, in dem sie mit einer klösterlich anmutenden Choralstimme die Worte «honesty» und «dignity» formt und an die Solidarität appelliert: «Fight for each other, for one, as one», um die Formen der Zukunft zu gestalten, um Ungleichheiten zu überwinden. Diese Worte wirken bei ihr nicht pathetisch, auch nicht ironisch; vielmehr liegen hier – in der Aufrichtigkeit und in der Würde – Alternativen zum Spass-Oberflächentechno von Labels wie PC Music.
Herndons Musik wirkt wie ein offener Quellcode, der sich durch permanentes Hacking ständig verändert. Noch ist nicht klar, wo dieser hinführt. Aber wer diesen Code zu entziffern und mitzugestalten versucht, findet neue Ausdrucksformen für rücksichtsvolle Beziehungen, die aus der digitalen Welt in den Lebensalltag weisen.


Am Freitag, 3. Juli 2015, tritt Holly Herndon am Festival Belluard Bollwerk International in Fribourg auf. www.belluard.ch

Holly Herndon: Platform. 4AD/RVNG Intl