Bon Iver: Ein Cyborg-Moment am Lagerfeuer
«22, A Million», das erste Album von Bon Iver seit fünf Jahren, ist eine Reflexion über das Wesen der Technik. Und man hört sie sich erst noch gerne an.
Technik nehmen wir vor allem dann wahr, wenn sie nicht funktioniert. Wir stehen etwa auf dem Pannenstreifen neben unserem Auto, und die Frau vom Pannendienst erklärt das Problem: Ein Übertragungsriemen ist gerissen. Wir schauen unter die Haube in den rauchenden Motor, und plötzlich zerfällt diese Maschine in Tausende Einzelteile, die eben noch so gut zusammengearbeitet haben, und in all die menschlichen Netzwerke, die mobilisiert werden müssen, damit sie es wieder tun. Natürlich ist dieses Netzwerk aus Menschen und Teilchen auch da, wenn das Auto läuft – nur beachten wir es nicht. Aber jetzt, da wir es sehen, denken wir: Erstaunlich, dass es funktioniert!
Bei der Popmusik ist das ähnlich – nur sprechen wir da von «gut abgemischt» oder «gut produziert», wenn sie funktioniert, sprich: wenn die verschiedenen Apparate und Menschen, die sie zum Laufen bringen, sich unseren Hörgewohnheiten entsprechend verhalten, wenn sie sich dem Fluss von Harmonie und Melodie unterwerfen, den wir als Wohlklang empfinden. Doch seit der Futurist Luigi Russolo in seinem wichtigen Manifest «Die Kunst der Geräusche» von 1931 die klangliche Beschränktheit des klassischen Orchesters kritisierte, haben musikalische Avantgarden immer wieder das Eigenleben von Maschinen und Geräten hörbar gemacht und zelebriert: mit Lärm, Strukturlosigkeit und Dissonanz.
Spuren nach Wisconsin
Irgendwo zwischen Wohlklang und Lärm gibt es auch diejenigen, die beides machen: die nicht auf die Apartheid von Mensch und Maschine bauen, die sich den Maschinen in die Arme werfen, ohne sie sich oder sich ihnen zu unterwerfen. Die daran arbeiten, musikalische Intimität in dieser Verschränkung neu zu konfigurieren. Ein solch hybrider Pop macht etwas sichtbar, was längst Tatsache ist: die unentwirrbare Verflechtung unseres Gefühlslebens mit all den Geräten, die wir täglich nutzen. Genau das machen James Blake oder Holly Herndon – und seit dem kürzlich erschienenen Album «22, A Million» auch Bon Iver. So heisst das Projekt des Multiinstrumentalisten Justin Vernon.
Hörbar wird diese Verstrickung auf «22, A Million» etwa dann, wenn Justin Vernon in «666 ʇ» den Benachrichtigungston von Facebook sampelt. Das digitale Signal löst bei unzähligen Menschen unweigerlich eine emotionale Reaktion aus – je nach erwarteter Nachricht jauchzende Vorfreude oder auch baren Schrecken. Aber das ist hier nur ein Detail. Der hybride Pop zielt aufs Eingemachte: auf die menschliche Stimme.
Darum ist «715 – CR∑∑KS» auch das Herzstück dieses Albums. Der Song ist eigentlich ein Duett: zwischen Vernon und dem Messina, einem Stimmenmodulationsgerät, das von Chris Messina, Vernons eigenem Soundtechniker, entwickelt wurde und sich von den meisten vergleichbaren Geräten durch seinen saftigen, geradezu glänzenden Klang unterscheidet. Das Gerät macht aus einer einzigen Stimme einen wilden Chor. Je kräftiger Vernon in das Gerät hineinsingt, desto heftiger reagiert es. Wie eine digitale Hydra schleudert es ihm die Signale seiner Stimme in vielfacher, zu wahnwitzigen Fratzen verzerrter Ausführung wieder entgegen. Man darf sich das aber nicht als einen Kampf vorstellen, eher als ein liebevolles Spiel, ein Kuscheln mit der Maschine.
Interessant wird es erst recht, wenn man den Spuren folgt, die vom Titel des Stücks ausgehen – bei Vernon, dem Kryptiker und Zahlenmystiker, kann man das gut machen. Folgt man diesen Spuren, fällt das Narrativ vom Bruch zwischen folkiger Einfachheit und digitaler Überfrachtung im Werk von Bon Iver Schritt für Schritt auseinander.
Der Songtitel «715 – CR∑∑KS» könnte auf «Fall Creek Boys Choir» anspielen, eine Vocoder-lastige Kollaboration mit James Blake von 2011. Zu diesem Zeitpunkt war der Name Bon Iver bereits auf Alben von Kanye West, dem König der Stimmmodulation, aufgetaucht, der Vernon kürzlich seinen liebsten lebenden Künstler genannt hat. Die Zahl 715 wiederum führt noch weiter zurück: bis an den Anfang von Bon Iver, als Vernon alleine in einer Hütte im Nordwesten des US-Bundesstaats Wisconsin (der die Postleitzahl 715 trägt) das Album «For Emma, Forever Ago» aufnahm.
Durch den Filter gesungen
Hier ist Vernon noch der einsame Folk-Melancholiker, als der er berühmt wurde. Doch da, im Stück «The Wolves (Act I & II)», Vernon singt gerade mehrstimmig die Zeile «what might have been lost», springt, teilt und verfremdet sich plötzlich kaum hörbar seine Stimme – ein kurzer Cyborg-Moment am Lagerfeuer. Er erinnert daran, dass auch die Intimität dieser Hütte technisch konstruiert ist.
Dieses Bewusstsein macht sich Vernon auf «22, A Million» exzessiv zunutze, immer wieder spielt er mit der Differenz zwischen digital und akustisch und mit der Tatsache, dass die entsprechenden Klangquellen auf der fertigen Aufnahme kaum unterscheidbar sind. «29 #Strafford APTS» beginnt mit einem Geräusch, das entsteht, wenn jemand eine akustische Gitarre in die Hand nimmt. Schon die ersten Akkorde werden durch einen Filter geleitet, der sie klingen lässt, als wäre der Tonträger beschädigt. Solche Filter suchen bald auch Vernons Falsettgesang heim, bei jedem Refrain etwas stärker, bis er zum Schluss völlig ausfranst und zerreisst.
Wenn diese ausgeklügelte Produktion mit ihrer langen Liste von KollaborateurInnen an Stellen wie dieser plötzlich klingt wie eine zerkratzte Schellackplatte, dann ist das auch eine Reflexion über das Wesen der Technik, die eben nichts mit der Menge an eingesetzten Apparaten zu tun hat, sondern mit den Kräfteverhältnissen, in denen Menschen und Apparate funktionieren – oder eben nicht funktionieren. Ein paar Kratzer auf der Platte, ein bisschen drehen am Rädchen eines Filters – und der Ton bricht.
Doch dieses Album würde nicht funktionieren, wenn es nicht so schön und manchmal fast sentimental klingen würde. Dass man miterlebt, wie diese Schönheit immer wieder ihren technischen Produktionsbedingungen abgerungen wird, lässt sie umso stärker wirken. Mit Entfremdung haben die unzähligen Modulationen nichts zu tun – ganz im Gegenteil. Vernon rekonstruiert die Sounds und Melodien aus Americana und Black Music, die das Rückgrat seines Songwritings bilden, mit den Mitteln experimenteller Elektronik. Auch wenn die kammermusikalische Intimität sich nun im Getriebe einer Maschine statt in der abgeschiedenen Hütte breitmacht, geht es doch immer noch ums Seelenheil. Vielleicht haben die vielen Religionsbezüge und Gospel-Samples auf dem Album auch damit zu tun.
Was geht da zu Ende?
Ein Teil von Vernons Sentimentalität war immer schon biografisch unterlegt. Ohne seine Vorgeschichte hätte das Hüttenalbum «For Emma, Forever Ago» vielleicht nie so eingeschlagen. Vernon hatte sich gerade von einer Band und einer Freundin getrennt, wollte nur noch allein sein und zog sich in die Ödnis von Wisconsin zurück. Nun gibt es zu «22, A Million» eine ähnliche Vorgeschichte – quasi mit umgekehrten Vorzeichen, aber gleichem Ausgang. Nach all seinen Erfolgen konnte Vernon schon bald nicht mehr damit umgehen, als Aussenseiter plötzlich ein Star zu sein. Er litt unter Panikattacken und Depressionen. In dieser Zeit soll ihm die erste Zeile des Albums in den Sinn gekommen sein: «It might be over soon», es könnte bald vorbei sein. Wie bei jedem guten Melancholiker bleibt die Zeile in der Schwebe, wenn er sie singt – es kann ja gut oder schlecht sein, was da zu Ende geht.
Vernon lebt jetzt zurückgezogener: «Faces are for friends» steht auf dem Umschlag des Albums. Das meint er auch wörtlich: Auf seinen neuen Pressebildern ist ein Teil seines Gesichts stets von collageartigen Störeffekten überdeckt: Verfremdung ist auch ein Schutz.
Konzert am 25. Januar 2017 in der noch von Gölä & Bligg zu eröffnenden Samsung Hall in Dübendorf.
Bon Iver: 22, A Million. Cargo