Durch den Monat mit Xiaolu Guo (Teil 4): Gab es in China keine feministischen Bewegungen?

Nr. 35 –

Nur eine Pessimistin ist eine richtige Optimistin, findet die chinesische Autorin und Filmemacherin Xiaolu Guo. Und sie erklärt, warum sie nicht cool ist und was sie an der englischen Gesellschaft schockierend findet.

Xiaolu Guo: «Zwar hätten in China Frauen theoretisch dieselben Rechte wie die Männer, aber in der Realität ist das natürlich ganz anders.»

WOZ: Xiaolu Guo, in Ihren Werken verhandeln Sie stets die Rolle der Frauen in der chinesischen wie auch in der europäischen Gesellschaft. Wie sehen Sie die Stellung der Frau in China?
Xiaolu Guo: Unsere Gesellschaft gründet ja auf dem Konfuzianismus, der besagt, dass die Frau dem Vater, später dem Ehemann und später dem erwachsenen Sohn gehorsam untersteht. Dieser Hintergrund prägt unsere Gesellschaft noch heute – obwohl Männer und Frauen mit dem Kommunismus theoretisch gleichgestellt wurden. Das hatte allerdings zur Folge, dass man auch mit Frauen sehr unzimperlich umging. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Zwar hätten Frauen theoretisch dieselben Rechte wie die Männer, aber in der Realität ist das natürlich ganz anders. In China gehen alle Frauen arbeiten und erledigen dazu noch die ganze Hausarbeit. Im Unterschied zum Westen gab es bei uns auch nie eine sexuelle Revolution. China ist eine sehr machoide Gesellschaft.

Gab es überhaupt feministische Bewegungen?
Die grosse feministische Revolution fand in den sechziger Jahren zur Zeit der Kulturrevolution statt. Allerdings vertraten die Frauen ganz andere Schulen als jene der feministischen Bewegungen in Europa und den USA.

Jahrzehnte später, während meines Studiums, hatten wir sehr viele feministische Diskussionen. Aber eine wirklich feministische Bewegung gab es da in China schon lange nicht mehr.

Viele Eltern in China wünschen sich einen Sohn, das zeigen Sie auch eindrücklich in Ihrem Buch «Stadt der Steine». Durch die 1979 eingeführte Einkindpolitik ist der Druck auf Frauen gestiegen, einen Sohn zu gebären. Viele treiben ab, wenn sie mit einem Mädchen schwanger sind. Hat sich die Stellung der Frauen durch die Einkindpolitik also verschlechtert?
Die Einkindpolitik ist sehr komplex. Als China sie einführte, wurde das im Westen als grosser Skandal verhandelt, vor allem in den USA. Doch heute will niemand mehr dagegen sein. Heute ist man im Westen froh darum, dass China dadurch seine Population verringern konnte. Denn die Überbevölkerung ist mittlerweile weltweit ein grosses Problem, nicht nur in China. Die Einkindpolitik wurde übrigens in diesem Jahr gelockert. Ich selber glaube aber nicht, dass diese Politik sich gegen Frauen oder gegen Männer wendet. Es ist nun mal eine Realität, dass wir in einem total überbevölkerten Land leben. Es ist schrecklich, in China herumzulaufen …

Sowohl in Ihren Romanen «Stadt der Steine» und «Ich bin China» als auch in Ihrem Spielfilm «She, a Chinese» erzählen Sie am Rand von einem sexuellen Übergriff auf eine junge Frau oder ein Mädchen. Ist sexueller Missbrauch in China ein Tabu?
Sexueller Missbrauch ist überall ein Tabu, in China, in den USA, in der Schweiz. Und er kommt auch überall vor – in China wie in allen anderen Ländern der Welt. Da gibt es wohl keinen Unterschied zwischen China und der westlichen Welt.

Wie nehmen Sie die Frauen in der westlichen Gesellschaft wahr?
Wenn du schlau bist, sagst du nicht: «Hier sind die Frauen so, und dort sind sie so.» Denn in jeder Gesellschaft gibt es wunderbare Frauen.

Anders gefragt: Wie nehmen Sie die Rolle der Frauen in der westlichen Gesellschaft wahr?
Ich kann nur von der englischen Gesellschaft reden, da ich diese am besten kenne. Und die finde ich allgemein sehr schwierig. Als ich vor dreizehn Jahren nach England kam, merkte ich sehr schnell, dass die Gesellschaft hier überhaupt nicht modern ist. Es war für mich sehr hart, zu verstehen und zu akzeptieren, dass es in England noch ein krasses Klassensystem gibt. Also das, was unser Land vor hundert Jahren aufgegeben hat, existiert hier noch immer. Das hat mich schockiert. Ausserdem kann ich die Förmlichkeit der Mittelklasse mit all ihren selbst gemachten Regeln nicht ausstehen. Die Leute hier in England wollen den sicheren Weg gehen – sowohl Frauen wie Männer: Sie wollen sesshaft werden, sich ein Haus kaufen, Kinder haben. Ich nenne sie «Gefangene der Mainstreamregeln». Ich selber kann nicht so ein Leben führen, im Grunde bin ich die reine Anarchie.

Aber Sie haben mittlerweile ja auch eine Familie in London und sind sesshaft geworden …
Leute wie ich haben keine Heimat und kein Zuhause, wir müssen unser Leben erfinden. Ich habe mir hier in England eine neue Identität zugelegt – doch ich bin und bleibe rastlos, manchmal wünschte ich selber, ich wäre sesshafter. Mein Lebensstil ist ja auch nicht cool. Cool sein heisst heute Berge anschauen und nicht über Politik reden. Und wenn du über düstere Sachen sprichst, will das niemand hören. Doch ich halte diesen netten Small Talk nicht aus. Wenn ich dann über düstere Dinge rede, nennen mich die Leute eine Pessimistin. Aber wenn du pessimistisch bist, bist du eigentlich eine echte Optimistin: Denn nur so kannst du die Probleme wirklich sehen und diese auch angehen und etwas verändern.

Die chinesische Autorin und Filmemacherin Xiaolu Guo (42) ist zurzeit auf Einladung der Stiftung PWG und des Literaturhauses Zürich Writer in Residence in Zürich. Sie liest am 28. August 2015 um 13 Uhr im Toni-Areal in Zürich. Am 20. September 2015 läuft ihr Spielfilm «She, a Chinese» (2009), ausgezeichnet mit dem Goldenen Leoparden, im Zürcher Filmpodium, und am 6. Oktober 2015 ist sie für ein Gespräch im Literaturhaus Zürich zu Gast.