Theater: Reality oder der alte Traum Brechts
Von Rimini Protokoll bis Milo Rau erobert die harte Wirklichkeit die Bühnen zurück. Doch im Hype um das neuere Realtheater geht vergessen, dass avanciertes Theater schon immer eines der Emanzipation war.
«Reality strikes back» hiess vor einigen Jahren das Motto einer freien Spielstätte. Und auch sonst ist es erstaunlich, wie oft in den Medien, in Programmtexten und Pamphleten mit Blick auf gegenwärtiges Theater von einem «Einbruch der Realität» oder von der «Rückeroberung der Wirklichkeit auf der Bühne» die Rede ist. Damit wird der Eindruck erweckt, Theater habe während Jahren ein realitätsfremdes Spiel betrieben. Und dass nun alles anders werde, dank der «Rückkehr des Dokumentarischen». Festmachen will man das an einzelnen Inszenierungen, aber auch an Festivals wie den Basler Dokumentartagen, die in diesem Frühjahr unter dem Titel «It’s the Real Thing» (einem alten Coca-Cola-Slogan) zum zweiten Mal stattfanden.
Erklärt wird diese «Rückkehr des Dokumentarischen» gemeinhin mit den harten Wirklichkeiten wie der Finanzkrise oder der aktuellen Flüchtlingstragödie, vor denen das Theater die Augen nicht mehr länger verschliessen dürfe. Tatsächlich hat sich das Theater wiederholt angesichts realer Krisen erneuert: Als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg entstand in den zwanziger Jahren das politische Theater Erwin Piscators, das die Arbeitermassen zum Klassenkampf anstiften wollte – mithilfe von Statistiken, Filmen und anderen dokumentarischen Materialien, mit denen von der Bühne herab die «revolutionäre Wahrheit» propagiert werden sollte.
Von Lampedusa auf die Bühne
So war es später auch in den sechziger Jahren: Angesichts des Holocaust und der Möglichkeit, mit der Atombombe die Menschheit auszulöschen, waren es die Stücke von Heinar Kipphardt, Peter Weiss und Rolf Hochhuth, die die Tradition des politisch engagierten Theaters erneuerten. Und so scheint es auch jetzt wieder zu sein, wenn sich namhafte Theaterleute um die harten Wirklichkeiten kümmern. Etwa dann, wenn Nicolas Stemann «Die Schutzbefohlenen» von Elfriede Jelinek mit echten Lampedusa-Flüchtlingen auf die Bühne bringt oder wenn Milo Rau in den Kongo reist, um vor Ort mit einem fiktiven Theatergericht die Nachwehen des Bürgerkriegs zu untersuchen. Oder auch, wenn ein Kollektiv wie Rimini Protokoll mit «Situation Rooms» den internationalen Waffenhandel zum Thema macht.
Die Krisenerzählung, wie sie zuletzt auch Bernd Stegemann in seinem polemischen Essay «Lob des Realismus» formuliert hat, scheint schlüssig (vgl. «Alles neoliberal – ausser die eigene Arbeit» im Anschluss an diesen Text). Doch wenn man ihr folgt, verzwergt man das Theater zu einer Kunstform, die sich nur dadurch erneuern und ihre gesellschaftliche Relevanz unter Beweis stellen kann, dass sie aussertheatrale Wirklichkeit einfängt, abbildet oder einbrechen lässt. Theater wird damit zu einem hohlen Gefäss. Oder es wird gar als ein Medium verkannt, das mit beliebigen Inhalten aus der Tagesaktualität gefüllt werden kann. Dann könnte das Theater den Betrieb allerdings gleich einstellen – nicht zuletzt angesichts der aussichtslosen Konkurrenz mit den neuen Medien, die das Theater in Sachen Reichweite und Tempo bei weitem übertreffen.
Politik mit Piscator
Mit der Krisenerzählung von den «einbrechenden Wirklichkeiten» verfehlt man denn auch die relevanten Möglichkeiten – und den eigentlichen Impuls – des neueren Wirklichkeitstheaters. Denn das wirklich aufregende und zukunftsweisende Realtheater war noch nie ein blosses Mittel. Im Gegenteil: Avanciertes Theater war schon immer eines der Emanzipation – auch dann, wenn es die Wirklichkeit einfing, abbildete oder einbrechen liess.
Was mit der Emanzipation als Grundimpuls des Wirklichkeitstheaters gemeint ist, war bei Piscator nur allzu offensichtlich: Er wollte mit seinem Polittheater die ArbeiterInnen mobilisieren, damit sie sich selbst aus ihrer Misere befreien könnten. Dieser emanzipatorische Anspruch blieb sich bis in die Gegenwart gleich, auch wenn die Zielgruppen, die Problemlagen und die Formen des Wirklichkeitstheaters sich wandelten. So auch bei Kipphardt, Weiss und Hochhuth, die mit ihrem Realtheater das Bewusstsein so weit hochtreiben wollten, dass für das Publikum ein anderes, eingreifendes Handeln möglich wäre.
Weg mit der Tribüne!
Allerdings wollte das Wirklichkeitstheater der letzten hundert Jahre nicht nur sein Publikum, sondern auch sich selbst von Zwängen befreien, die es in seinen Möglichkeiten beschränkte. Was es damit auf sich hat, zeigt die Gründungsgeschichte einer Gruppe wie Rimini Protokoll, die vor gut zwanzig Jahren mit ihren Arbeiten das neuste Kapitel des Dokumentarischen in der Theatergeschichte eröffnete: Formiert hat sich das deutsch-schweizerische Kollektiv in den neunziger Jahren am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Giessen, einer Kaderschmiede, wo man seit jeher mit einem Theater ohne SchauspielerInnen experimentierte. Das war der scheinbar schlichte Grund, warum der Schweizer Stefan Kaegi als einer der GründerInnen von Rimini Protokoll auf die Idee kam, zunächst einen Geflügelzüchter, dann einen neurotischen Ufologen und schliesslich eine adlige Dogge zu den Protagonisten seiner ersten Stücke auf der Probebühne von Giessen zu machen.
Geflügelzüchter, Ufologe, Dogge: Was wie ein studentischer Jux klingt, war vom Theater der Neoavantgarde der sechziger Jahre legitimiert – allen voran von demjenigen Robert Wilsons, der in seinen frühen Arbeiten wie «Deafman Glance» mit AutistInnen und einem tauben Jungen zusammenarbeitete, deren Lebens- und Vorstellungswelten er in seinem artifiziellen Bildertheater auf die Bühne brachte. Die Wilson-Produktionen waren damals das sichtbarste Beispiel eines emanzipierten Theaters, in dem alle und alles gleichberechtigt vorkommen dürfen: die Autisten neben professionellen Schauspielerinnen, aber zugleich auch alle Elemente des Theaters wie das Licht oder die Musik, die nicht mehr einer fabelhaften Geschichte oder einem Konzept von Rollenspiel untergeordnet sind.
Der von Wilson eingeleitete Emanzipationsschub führte bei Rimini Protokoll schliesslich zu einer Demokratisierung des dokumentarischen Theaters: Nicht mehr ein Papst wie in Hochhuths «Stellvertreter» (1963) oder ein Atomphysiker wie in Heinar Kipphardts «In der Sache J. Robert Oppenheimer» (1964), sondern Menschen mit alltäglichen Berufen sind die ProtagonistInnen dieses Theaters, in dem sie das auf der Bühne Erzählte beglaubigen – und zwar ohne Filme und andere dokumentarische Materialien, sondern allein mit ihrer Subjektivität.
Das Ende der Hierarchien
So erfüllte sich Rimini Protokoll zugleich einen alten Traum von Brecht, der einmal gesagt haben soll, dass sein Lehrstücktheater erst dann Wirklichkeit geworden sei, «wenn man mit der Perversion aufhört, aus einem Luxus einen Beruf zu machen». Damit formulierte Brecht nichts anderes als ein Theater der Selbsterfahrung, das theoretisch ganz ohne professionelle SchauspielerInnen auskommt. Praktisch ins Werk gesetzt wurde Brechts Theorie aus den Zwanzigern wiederum in Giessen, wo man im Glauben ans Kollektiv Brecht wörtlich nahm. Gleich bei der Gründung des Instituts im Jahr 1982 flexte man die Tribüne weg und versuchte das Theater zu einem Raum der Selbsterfahrung für die Spielenden zu machen – als Vorahmung einer egalitär-libertären Gesellschaft, in der es keine Hierarchien oder autoritäre Instanzen mehr geben dürfte.
Diese Versuche wirken bis heute nach – auch im Theorietheater eines René Pollesch, der ebenfalls zu den AbsolventInnen von Giessen gehört und mit seinem Diskurstheater nicht nur von dem befreien will, was reguliert oder gar nicht zu leben ist. Vielmehr geht es Pollesch immer auch darum, das Theater als Selbsterfahrung für die SpielerInnen zu behaupten. «Das haben wir nicht für euch gemacht», heisst es denn auch am Ende eines seiner grossen Stücke, in dem sich an der Rampe ein Chor formiert, um Brechts Traum von einem Theater der Selbsterfahrung mit einem «Macht es für euch!» zu erneuern.
Erkenntnis, die reinknallt
Realität wird Brechts Traum aber auch im Wirklichkeitstheater eines Kollektivs wie Rimini Protokoll, das in seinen Audiowalks und anderen Arbeiten die gewohnt passive Position eines Publikums, das sich sonst zum blossen Zuschauen verpflichtet sieht, wiederholt aufhebt. So auch in «Situation Rooms», einer begehbaren Installation zum Thema Waffenhandel, die jetzt in Basel aufgebaut wird. Dabei bewegt man sich mit einem Kopfhörer und einem iPad durch ein Labyrinth aus Räumen, folgt den Anweisungen der Stimme im Ohr und wird so mit seinem Körper selbst zum Akteur in einem Spiel von erlebter Erkenntnis, was ziemlich reinknallt. Etwa dann, wenn man sich einen schusssicheren Mantel überstreift oder sich in einem Schiesskanal mit dem iPad in der Hand auf den Boden legt und auf dem Bildschirm sieht, wie jemand in der gleichen Position und im gleichen Raum eine Waffe abfeuert – und just darauf eine andere Akteurin aus einem Durchstieg in der Wand in die Schusslinie steigt.
Wenn Milo Rau in einem fiktiven Gerichtsverfahren mit realen AkteurInnen die blutige Vergangenheit im Kongo untersucht, sorgt gerade die juristische Folgenlosigkeit des Theaters dafür, dass Geständnisse möglich werden, wie sie in einem regulären Prozess kaum zu hören gewesen wären. Aber auch im intimeren Rahmen sind die Möglichkeiten eines emanzipierten Theaters zu erfahren, etwa beim Schweizer Regisseur Boris Nikitin, der sich in einem seiner dokumentarischen Stücke mit dem deutschen Grundgesetz beschäftigte – und dabei mit einem flirrenden Performer, dem das Wort «androgyn» nicht gerecht wird, das binäre Geschlechtsmodell sprengte, von dem das Grundgesetz mit seiner strikten Unterscheidung zwischen Mann und Frau ausgeht. Theater kann Gesetze sprengen.
«Situation Rooms» von Rimini Protokoll in: Basel, Kaserne, Mittwoch, 16. September 2015, bis Sonntag, 27. September 2015. www.kaserne-basel.ch
Stegemanns Polemik : Alles neoliberal – ausser die eigene Arbeit
Das Theater hat dem Neoliberalismus Vorschub geleistet: Das ist die These, mit der Bernd Stegemann vor zwei Jahren seine «Kritik des Theaters» formulierte. Jetzt hat der Dramaturg der Berliner Schaubühne diese Kritik am Theater der Postmoderne in einem weiteren Buch erneuert: Mit seinem Vertrauen in die Kontingenz (alles könnte anders sein) habe es dem Flexibilisierungswahn des Neoliberalismus nur Vorschub geleistet, statt ihn zu kritisieren.
Angesichts von neoliberalen Zumutungen und anderen Missständen fordert Stegemann eine Besinnung auf die Kernqualität des Theaters, die für ihn in der Darstellung der dialektischen Widersprüche liegt. Exemplarisch dafür steht eine Inszenierung von Ibsens «Volksfeind», die 2012 an der Berliner Schaubühne aufgeführt wurde, als Stegemann dort Chefdramaturg war. Fast alles andere wird von ihm verworfen. So auch die Arbeiten von Rimini Protokoll, weil diese ihr Alltagspersonal auf der Bühne «entfremden» würden, oder die Inszenierungen von René Pollesch, der sich mit seinem emanzipatorischen Theater in der Sackgasse der Political Correctness verlaufe.
Mit seinem Einwand gegen Rimini Protokoll – wie auch in anderen Punkten – benennt Stegemann durchaus treffend einige Schwierigkeiten des emanzipatorischen Theaters. Ein solches ist in Reinform wohl nie zu haben: Selbst Pollesch gibt seine Position als Autor nie ganz auf, und Rimini Protokoll casten die LaiInnen für ihre Projekte nach ganz bestimmten Kriterien. Wahrscheinlich bleibt also immer ein autoritärer Rest. Trotz solcher Vorbehalte hat Stegemanns Buch den Vorteil, dass es eine Tour d’Horizon bietet, in der er auf alle wichtigen Stationen und Streitgefechte, die sich am Realtheater entzündet haben, eingeht – von Hegel über den Sozialistischen Realismus, dem Stegemanns dialektisches Denken verpflichtet ist, bis hin zu Brecht und Slavoj Zizek.
Andreas Tobler
Bernd Stegemann: «Lob des Realismus». Verlag Theater der Zeit. Berlin 2015. 211 Seiten. 25 Franken.