Milo Rau: Die monströse Rückseite der Normalität

Nr. 16 –

Wie ein Blick in die offene Mündung einer Waffe: Mit «The Dark Ages» hat der Schweizer Regisseur Milo Rau in München den zweiten Teil seiner Europa-Trilogie uraufgeführt.

«Alle sind tot. Aber ich bin da. Und ich kann nicht vergessen»: Sudbin Music (oben und Zweiter von links) in «The Dark Ages» von Milo Rau. Foto: Thomas Dashuber

Machtvoll türmen sich die Steine des Monuments vor unseren Augen auf. Aber das, worauf wir blicken, ist kein Repräsentationsbau der Macht, kein Mahnmal des Heroismus oder der Andacht. Was sich da aufbaut, ist vorerst nur ein stummer Klotz mit grobem Mauerwerk von vielleicht drei Metern Breite, der zu Beginn alles Licht und alle Aufmerksamkeit auf sich zieht – sodass man seinen Blick trotzig ins randlose Dunkel gleiten lässt, wo das Ensemble auf seinen Auftritt wartet.

Das Monströse mit Menschenpuls

Der trotzige Blick ist durchaus angemessen, denn er entspricht demjenigen von Milo Rau, dem Regisseur des Abends, der sich in seinen Theaterarbeiten in hoher Frequenz dem Abgründigen, dem Bösen, dem Pathologischen, kurz: dem Monströsen mit Menschenpuls zuwendet. Zumindest war das so seit seinem Durchbruch vor sechs Jahren, als Rau mit «Die letzten Tage der Ceausescus» die Form des Reenactments reanimierte. In den deutschen Feuilletons wird der Schweizer noch immer als «Meister» und «Papst» dieser Theaterform gefeiert – auch jetzt wieder, nach der Premiere von «The Dark Ages», dem zweiten Teil seiner Europa-Trilogie. Dieser kam am Wochenende auf der Kammerbühne des Münchner Residenztheaters zur Uraufführung, und dazu gehört auch das Stück Monumentalarchitektur, das sich dicht vor unseren Augen aufbaut.

Doch wer wirklich verstehen will, was an «The Dark Ages» so bemerkenswert ist, muss Anlauf nehmen – und der beginnt bei Milo Raus Abdankung: Denn seit den «Ceausescus» hat sich der Schweizer Regisseur schrittweise vom Reenactment verabschiedet und die Ansätze seines Realtheaters kontinuierlich verändert. Da war «Breiviks Erklärung», ein Monolog aus Texten des Massenmörders Anders Behring Breivik. Wiederum ganz anders, nämlich als offene Versuchsanlagen, waren die beiden Gerichtsprozesse angelegt, die Rau vor gut zwei Jahren realisierte: die Wiederaufnahme der Moskauer Prozesse gegen die Punkband Pussy Riot ebenso wie die fiktiven «Zürcher Prozesse» gegen die «Weltwoche», wobei Letztere im Fake-Land des Theaters mit realen ProtagonistInnen neue Wirklichkeiten erzeugen wollten.

Die Jacke war beständiger als Blut

Im gefrässigen Theaterbetrieb, der sich nach Labels verzehrt, ist es durchaus bemerkenswert, dass sich einer wie Rau auf diese Weise einer Festlegung entzieht – und dass er sich dennoch in seinem Erkenntnisinteresse für das Monströse treu geblieben ist. So gleichen seine Stücke letztlich immer dem Blick in die Mündung einer Waffe, an der jemand herumspielt. So ist das auch in «The Dark Ages», Raus jüngstem Stück, in dem fünf ProtagonistInnen aus jeweils eigener Perspektive und unterschiedlichen historischen Distanzen von Krieg, Flucht und Vertreibung erzählen. Einer der hier Versammelten ist Sudbin Music, ein bosnischer Menschenrechtsaktivist, der in der dunkelsten Stunde seines Lebens nach dem Jugoslawienkrieg den Schädel seines Vaters in der Hand hielt. Erkannt hat Music die Gebeine seines Vaters nur noch am synthetischen Jackenstoff, der die Knochen umgab – und der offensichtlich beständiger war als das Fleisch und Blut seines Vaters.

«Alle sind tot. Aber ich bin da. Und ich kann nicht vergessen», sagt Music. Und eigentlich könnte man an seiner Erzählung die ganze antike Tragödientheorie durchdeklinieren – bis hin zum Moment der Anagnorisis, dem Wiedererkennen, das für die tragische Erfahrung bestimmend ist. Aber bei Rau fehlt alles antike Grosse in der Menschendarstellung, obwohl seine fünf ProtagonistInnen während zweier Stunden von den Ungeheuerlichkeiten von Krieg und Vertreibung erzählen. Man hält es dennoch aus. Denn wie bereits in «The Civil Wars», dem in Zürich uraufgeführten Auftaktstück von Raus Europa-Trilogie, wendet sich die monumentale Frontansicht durch einen Dreh des Bühnenbilds zu einem schlichten Setting mit Aktenordnern und Ablage, das sich auf der Rückseite des steinernen Kolosses befindet und das uns Music als Kopie seines Büros vorstellt.

Hier wird erzählt. Und wie in «The Civil Wars», das eine Wohnzimmerbühne zeigte und den familiären Pathologien seiner Protagonisten und ihren Verknüpfungen mit dem Politischen gewidmet war, ist auch «The Dark Ages» ein Stück mit reflexiver Rahmung. Denn auch hier ist jederzeit sichtbar, wie die grossen Gefühle und die effektstarken Livebilder zustande kommen, die auf der Leinwand gezeigt werden: Wir sehen die Scheinwerfer und die Kamera, die das Bild vergrössert und vergröbert im schwarzweissen Pathoseffekt aus dem Büro auf die Grossleinwand über der Bühne werfen.

Alles andere als ein Mitleidsporno

Aber anders als bei anderen Produktionen des Gegenwartstheaters, die in jedem reflexiven Moment vom Konstruktionscharakter der Realität raunen, ist dies bei Rau nicht der Fall. Denn er besteht mit seinem Wirklichkeitstheater ja geradezu trotzig darauf, dass das Reale greifbar sei. Auch und gerade in der Erinnerung. Die reflexive Rahmung hat bei Rau denn auch einen anderen Effekt als die Dekonstruktion: Sie trennt das Sentimentale von der reinen Sympathie und dem Interesse, das wir notwendigerweise brauchen, wenn wir etwas über den Menschen erfahren wollen. «The Dark Ages» ist denn auch nicht einer dieser gutbürgerlichen Mitleidspornos, die uns durch starke Affekte wie Furcht und Schrecken zu besseren Menschen veredeln wollen. Nein, wie «The Civil Wars» ist auch «The Dark Ages» so etwas wie eine autonome Psychoanalyse: Es ist der Versuch von fünf Menschen, sich – im wörtlichen Sinne – selbst zu erklären und herauszufinden, wie sie wurden, wer sie sind.

Vielleicht ist das Theater dafür tatsächlich der richtige Ort. Zumindest für den Schauspieler Manfred Zapatka, der von der Ausbombung seines Elternhauses in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs erzählt, aber auch von einem üblen Erbschaftskrieg mit seinem Bruder: «Wir sind hier nicht im Theater», habe der Bruder zu Zapatka gesagt, als dieser eine Erklärung für sein Handeln im familiären Kleinkrieg forderte.

Die Dialektik der Tragik

Was uns im Moment der Überschreitung des Normalen widerfährt, macht uns erst zu dem, was wir sind: Das ist der Kern einer jeden tragischen Erfahrung seit der Antike. Und als Menschen mit solchen Erfahrungen erklären sich auch Milo Raus SchauspielerInnen: Wenn man ihnen zuhört, scheint es, als sei das Europa von heute auf den Fundamenten von ausgebombten Häusern gebaut, deren Keller angefüllt sind mit vertrocknetem Blut. Und als sei die tragische Erfahrung ein Element der Normalität. Denn die Menschen vor uns auf der Bühne erzählen ruhig und gefasst von dem, was sie erlitten haben. Nach «The Dark Ages» muss man sich das Monströse des Unrechts und des Bösen als die machtvolle Rückseite der Normalität vorstellen, mit der es gleichsam dialektisch verbunden ist.

Das letzte Wort gehörte dann der slowenischen Band Laibach, die zu «The Dark Ages» den erstaunlich soften Soundtrack geliefert hat: «Each man kills the thing he loves», sangen sie in den Worten von Oscar Wilde, ehe die Band nach der Premiere im grossen Haus des Residenztheaters mit seinen tausend Sitzplätzen aufspielte. Und hier – vor dem eigentlichen Konzert – kristallisierte sich nochmals mit Nachdruck das dialektische Denken heraus, von dem «The Dark Ages» bestimmt ist: In einem Videomanifest, das man inzwischen auch auf Youtube findet, richtete sich Raus Ensemble ans Auditorium. «Der Hass ist der Panzer der Liebe», heisst im Manifest, das sich an die «Deutschen!» und «Europäer!» wendet – und mit seinem martialischen Verkündigungsgestus demjenigen von Laibach in nichts nachsteht.

Das Negative wie der Hass ist gemäss Rau das, was alles zusammenhält – und das paradoxerweise das Gute ermöglicht, also auch das «gerechte» und «schöne» Europa, von dem im Manifest die Rede ist, das auch im Programmheft abgedruckt ist. Doch dieses neue Europa, das sich Rau wünscht, wird nur durch die «Ordnung der Geschichte» möglich sein, die «so hart sein muss wie die Ordnung der Weltwirtschaft».

Das ist der dialektische «Marshallplan der Seele», den Milo Raus Manifest formuliert – und den er mit seiner psychoanalytischen Europa-Trilogie auf die Bühne bringen will.

Bis 31. Mai 2015 im Residenztheater München. Schweizer Termine: Zürich, Theaterspektakel, 
6. bis 9. August 2015; Lausanne, Théâtre Vidy, 
24. und 25. Dezember 2015.

Milo Raus gesammelte Feuilletons : Mit feuerfestem Glauben an Hegels Dialektik

Als Milo Rau seinen Durchbruch beim Theater erlebte, verlor das Feuilleton ein grosses Talent. Denn bevor er international als Regisseur durchstartete, war Rau während mehrerer Jahre als freier Kulturjournalist für die WOZ und die NZZ unterwegs sowie als Blogger aktiv.

Film, Theater, Literatur, Philosophie: Das waren die vier Spielfelder, auf denen er sich zu dieser Zeit mit seinen Texten bewegte, die nun im Band «Althussers Hände» versammelt wurden – und die irgendwo zwischen Glasperlenspiel, Selbstsuche, Positionierung und politischem Aktivismus angesiedelt sind. Rau publizierte zu Roland Barthes ebenso wie zu David Lynch, zu Wes Anderson ebenso wie zu Frank Castorf. Und immer ist er souverän. So auch in seiner fulminanten Grossrezension von Tom McCarthys Reenactment-Roman «8 ½ Millionen», die 2009 in der NZZ erschien. Darin feiert Rau das Buch des britischen Schriftstellers als ein Stück «neue realistische Literatur», die «durch alle Fegefeuer kulturpessimistischer Selbstzweifel gegangen ist».

Die «mystische Obsession der Realpräsenz», von der Rau in seinen Theaterarbeiten bestimmt wird, findet sich in fast allen seinen Feuilletons, in denen er seine politische und ästhetische Position zu entwickeln versucht. Am kraftvollsten zeigt sich dieser Hunger nach Wirklichkeitsbezug in einem seiner Blogeinträge, in dem sich der Verächter jeglichen postmodernen Relativismus an Niklas Luhmann und dessen JüngerInnen abarbeitet, «die ohne Netz und doppelten Boden» den «Two-Step-Samba» des konstruktivistischen Systemtheoretikers tanzen: «Draw a distinction, Ja oder Nein, los, entscheide dich!», das sei die entscheidende Forderung bei Luhmann, den Rau trotz seiner Ablehnung zu retten versucht, indem er prognostiziert, dass der kantisch-konstruktivistische Anteil an Luhmann «zugrunde gehen» werde. Überleben werde nur die hegelianische Dialektik, aus der bei Luhmann «fast alles» sei – und an deren «unverwüstliche» Erklärungskraft in Sachen Realität sich Rau mit seinem feuerfesten Glauben heftet – auch in seinen Theaterarbeiten.

Im Anhang liefert Rau auch noch eine kommentierte Episode aus dem «theoretischen Roman», den er ja eigentlich unter dem Titel «Althussers Hände» schreiben wollte, als er mit seinem Blog und den Zeitungspublikationen begann. Ob an Rau ein Romancier verloren gegangen ist, lässt sich aufgrund des abgedruckten Bruchstücks nicht beurteilen. Aber ganz sicher ist er ein Denker und Stilist, der jeder Feuilletonredaktion gut anstehen würde, die etwas auf sich hält.

Andreas Tobler

Milo Rau: «Althussers Hände». Verbrecher-Verlag. Berlin 2015. 314 Seiten. 27 Franken.