Vor hundert Jahren: Der Planet der Herzen

Nr. 37 –

Pluto wurde nicht entdeckt. Seine Geschichte handelt von Mathematik, der Vorstellungskraft, indirektem Wissen und kultureller Beratungsresistenz.

Unregelmässigkeiten in der Umlaufbahn Neptuns, deren Ursache man seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts debattierte, liessen die Anwesenheit eines noch weiter entfernten, grossen Gestirns vermuten. Vor hundert Jahren wagte der US-amerikanische Astronom Percival Lowell mit seiner Schrift «Memoir on a Trans-Neptunian Planet» eine empirisch gestützte Berechnung von Masse, Ellipse und zwei möglichen Aufenthaltsorten des gesuchten «Planeten X». Von ihm unbemerkt blieb, dass das erahnte Objekt bereits auf seinen Fotoplatten von 1915 vorhanden war – als Lichtfleck, als Spot, aber ungeeignet, die Erwartungen des Astronomen an den neuen Planeten zu erfüllen.

Rechnen im All

Die Identifizierung des Lichtpunkts als orbitales Gestirn war Clyde Tombaugh, einem von Lowells Nachfolgern am Lowell-Observatorium, anhand von eigenen Aufnahmen im Jahr 1930 überlassen. Obgleich er den Planeten in einer der zwei vorausgesagten Himmelsregionen fand, stellte die Fachwelt sofort die mathematischen Leistungen seines Vorgängers infrage. Konnte Lowell als Prophet des neuen Planeten gelten, wenn er sich derart grob in dessen Masse verschätzt hatte? Damit stand nicht nur die Frage nach dem Umgang mit Fehlerquotienten im Raum, sondern auch jene, ob nur EntdeckerIn sein kann, wer vorher die richtige Intention hatte.

Dessen ungeachtet befand man beim Namenswettbewerb den Vorschlag «Pluto» eines elfjährigen Mädchens aus England auch wegen der Initialen Percival Lowells passend. Pluto eroberte die US-amerikanische Populärkultur im Sturm – zum einen hatten die USA zum ersten Mal einen Planeten entdeckt, zum anderen tauchte ab 1931 an der Seite von Mickey Mouse auch noch ein treuherziger Hund namens Pluto auf. Die Begeisterung blieb ungebrochen, obgleich während der folgenden Jahrzehnte astronomische Messungen dem neunten Planeten eine immer geringere Masse bescheinigten. Diese kalkulatorische Schrumpfung erreichte ihren Höhepunkt 1978 mit der Entdeckung des Pluto-Mondes Charon, die erlaubte, Pluto als definitiv kleiner als unseren Erdtrabanten zu beziffern. Nebenbei wurde damit die These vom «Planeten X» als Ursache für Neptuns Abweichungen von der Umlaufbahn widerlegt. Was also hatte Tombaugh 1930 eigentlich gefunden?

Klein und friedfertig

Die in unvorstellbaren Entfernungen (4,3 bis 7,5 Milliarden Kilometer) numerisch stattfindende Verkleinerung des populären Himmelskörpers war noch zu verkraften gewesen. Die Zurückstufung zum «Zwergplaneten» durch die International Astronomical Union (IAU) im Jahr 2006 aber war zu viel. Ein Aufschrei ging durch Wissenschaft, Kultur und Politik: Steuergelder würden verschleudert, wenn Lehrbücher umgeschrieben und Museumshallen neu eingerichtet werden müssten, Planetenwege verlören massiv an Erholungswert; an die Zukunft der Eselsbrücke «My Very Educated Mother Just Served Us Nine Pizzas» gar nicht zu denken.

Sheldon, theoretischer Physiker in der Sitcom «The Big Bang Theory», brachte das Gefühl einer gekränkten Nation beim Gastauftritt eines Verfechters der Neudefinition auf den Punkt: «Ich mochte Pluto. Ergo mag ich Sie nicht.» Die kulturelle Widerständigkeit fand ihr Pendant in der sofortigen Deklaration des Leiters der Mission «New Horizons», die sieben Monate vor der Degradierung mit Ziel Pluto gestartet war: In all ihren Berichten würden sie immer vom «neunten Planeten» sprechen.

Selbst die Begründung der IAU, die Pluto erst zum «dwarf planet» machte, steigerte unsere Sympathien: Er sei zu klein, um seine Region des Alls zu dominieren. Gerade die Kenntnis vom Vorhandensein eines friedfertigen Planeten, der unauffällig die Ränder unseres Sonnensystems abschreitet, werden wir keinen wissenschaftlichen Spitzfindigkeiten opfern. Deshalb schauen wir 2015 mit Ehrfurcht die kosmischen Porträts unseres astronomischen Lieblings an, unbeeindruckt von allen kläglichen Angriffsversuchen auf die Grösse Plutos, dessen wahre Bedeutung ohnehin in unseren Herzen entstand. So bald, das wissen wir, wird es keinen mehr geben wie ihn.

Ariane Tanner, Zürcher Historikerin, forscht aktuell zur Mathematisierung der Ökologie und zur kulturellen Bedeutung des Konzepts «Biomasse».