EU-Agrarpolitik: «Die Bauern sind geradezu gezwungen, auf die Spekulation zu setzen»
Die Gemeinsame Agrarpolitik der EU ist umstritten. Mitte Oktober präsentiert die EU-Kommission einen Reformvorschlag. Die österreichische Agrarexpertin Alexandra Strickner erklärt, warum die EU-Agrarpolitik weder ökologisch noch sozialverträglich ist – und wie sie es werden könnte.
WOZ: Alexandra Strickner, die Gemeinsame Agrarpolitik der EU (GAP) ist teuer: Sie verschlingt mehr als vierzig Prozent des EU-Budgets. Warum?
Alexandra Strickner: Dazu muss man die Geschichte der GAP anschauen. Stabile Agrarpreise und ein gerechtes Einkommen für die Bauern waren einmal ihre zentralen Eckpfeiler. Es gab einen Mindestpreis: Wenn zu viel produziert wurde und daher der Marktpreis zu gering war, sprang die öffentliche Hand ein. Doch dann verschrieb sich die EU immer mehr den Interessen der exportorientierten Lebensmittelindustrie. Heute ist ihr Ziel, die globale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Lebensmittelindustrie zu verbessern und die GAP an die Regeln der Welthandelsorganisation WTO anzupassen – Regeln, die die EU selbst miterschaffen hat.
Wie macht sie das?
Dumping zu verbieten – also den Verkauf von Lebensmitteln unterhalb der Entstehungskosten –, ist an sich sinnvoll. Die WTO hat aber eine andere Definition: Sie nennt es Dumping, wenn ein Produkt ausserhalb der Produktionsregion – in diesem Fall der EU – billiger verkauft wird als zum Preis, der innerhalb der Region gilt. Also hat die EU dafür gesorgt, dass die Preise, die die Bauern und Bäuerinnen für ihre Produkte innerhalb der EU bekommen, sich dem Weltmarktpreis annähern. Aber von diesen Preisen kann in Europa niemand leben. Schon gar nicht, wenn man eine immer nachhaltigere und ökologischere Landwirtschaft will. Und diese Differenz gleicht man jetzt mit den Direktzahlungen aus.
Die Umstellung auf Direktzahlungen gab es auch in der Schweiz. Sie gilt als Schritt hin zu einer ökologischeren Agrarpolitik.
Direktzahlungen sind nicht per se ökologischer. Das Direktzahlungssystem in der EU ist eine riesige Subventionierung der Lebensmittelindustrie: Diese bekommt Rohstoffe weit unter den Herstellungskosten, damit sie international wettbewerbsfähig bleibt. Statt Dumping via Exportsubventionen findet nun indirektes Dumping via Förderungen statt.
Warum?
Das Problem ist, dass es sich die armen Länder nicht leisten können, ihre Bauern mit Direktzahlungen zu unterstützen. Wenn billiges Milchpulver aus der EU nach Afrika exportiert wird, dann ist das Dumping, auch wenn die Marktpreise in der EU genauso tief sind. Denn die Milchbauern in der EU überleben nur dank Direktzahlungen. Und auch sie können sich nur über Wasser halten, wenn sie eine gewisse Grösse haben. Die politisch Verantwortlichen für die GAP möchten auch noch die letzten Instrumente abschaffen, die es für eine Regulierung der Märkte gibt. Zum Beispiel die Milchquote.
Was sind die Folgen?
Es ist einerseits fatal für die Bauern und Bäuerinnen in Europa – damit gehen ganz viele kleine Produktionsstrukturen kaputt. Es ist auch für die Qualität der Lebensmittel fatal, denn es führt zu industrielleren Produktionsformen. Es ist fatal für die Umwelt und für den Süden, weil es die Überproduktion noch ankurbelt, die in vielen Ländern die Strukturen ruiniert. Und die Abschaffung der Steuerungsinstrumente zwingt die Bauern, Instrumente zu nutzen, die letztlich die Spekulation auf Lebensmittel befördern.
Wie meinen Sie das?
Wenn die Preisstabilität nicht mehr über öffentliche Instrumente hergestellt wird, werden die grösseren Produzenten auf die Warenterminbörsen gehen und versuchen, ihre Ernten im Voraus zu verkaufen. Wer Weizen anpflanzt, weiss ja nicht, wie der Preis zur Zeit der Ernte ist. Wenn er sie im Voraus verkauft, bekommt er zumindest so viel, wie er abgemacht hat. Der Händler spekuliert darauf, dass der Preis steigt. Und die Differenz zwischen dem, was er dem Bauern zahlt, und dem Verkaufspreis ist sein Gewinn. Für die Bauern ist das ...
... besser als nichts.
Genau. In diesem Moment sichert der Finanzmarkt Risiken ab – allerdings für jeden Produzenten individuell, nicht für alle. Im Ganzen nehmen die Preisschwankungen mit diesem System noch zu, vor allem, weil Pensionsfonds und Hedgefonds mitmischen. Wer gegen die Lebensmittelspekulation kämpfen will, muss also für eine Agrarpolitik kämpfen, die andere Instrumente zur Stabilisierung der Preise bereitstellt. Wir brauchen gerechte, faire und stabile Preise, und das geht nur mit einer Regulierung des Marktes.
Sie wollen also zurück zur alten Agrarpolitik vor 1992?
Nein. Die alte Agrarpolitik hatte eine entscheidende Schwäche: Es gab keine Mengenbeschränkungen. Ausser bei der Milch, da wurden 1984 die Quoten eingeführt. Die Überproduktion hat historische Gründe: Nach 1945 ging es erst mal darum, genug für den europäischen Bedarf zu produzieren. Das wurde aber bald erreicht. Von da an hätte man die Mengen steuern müssen, um nicht permanent zu viel zu produzieren.
Wie sähe Ihr Modell denn aus?
Es braucht sowohl Preisstützung als auch Mengensteuerung. Die Milchproduktion lässt sich mittels Quoten relativ einfach planen. Aber beim Getreide braucht es andere Instrumente, da ich bei der Aussaat noch nicht weiss, wie die Ernte sein wird. Früher gab es in den USA ein sinnvolles System: Wenn es Überschüsse gab, kamen sie in ein öffentliches Lager, und im nächsten Jahr durfte nur auf achtzig Prozent der Vorjahresfläche Getreide angebaut werden. Das stabilisierte den Preis.
Aber heute, unter dem Druck der Liberalisierung, macht das fast niemand mehr.
Doch, in Kanada gibt es Mengensteuerung bei Milch, Eiern und Geflügel. Die Bauern sind direkt involviert, und man schaut laufend, wie hoch der Bedarf ist, damit man die Mengen anpassen kann. Die Preise sind kostendeckend; entsprechend sind die Gewinne der verarbeitenden Industrie und der Supermärkte viel kleiner als in Europa. In der EU sahnen sie ja unglaublich ab.
Und dieses Modell ist erst noch viel billiger! In Kanada funktioniert die Preisstabilisierung ohne öffentliche Gelder.
Ist das, was Kanada macht, WTO-konform?
Ja, nach den heutigen Regeln schon. Unklar ist, ob das so bleibt. In den WTO-Verhandlungen für eine weitere Liberalisierung der Agrarmärkte gab es enormen Druck auf Kanada, dieses Modell abzuschaffen.
Europa ist aber so vielfältig, dass ein Preis für alle nicht fair wäre: Ein Tiroler Bergbauernhof hat viel höhere Produktionskosten als ein norddeutscher Grossbetrieb.
Um diese Differenz auszugleichen, würde es öffentliche Gelder brauchen. Wenn der durchschnittliche kostendeckende Preis für einen Liter Milch zum Beispiel fünfzig Cent wäre, könnte ein Milchbauer aus dem Berggebiet die Differenz zu seinen tatsächlichen Kosten als Förderung bekommen. Das Mähen der Wiesen und das Erhalten der Almen sind ja gesellschaftlich wichtige Leistungen, die wir honorieren sollten. Mit diesem Modell würden wir nur einen Bruchteil des heutigen Agrarbudgets benötigen.
In der Schweiz gibt es seit 2009 keine Milchquoten mehr. Die Mehrheit der Milchbauern und -bäuerinnen wäre für eine Mengensteuerung, aber die Molkereiindustrie und einige Grossbetriebe tun alles, um sie zu verhindern.
Jene, die eine Mengensteuerung befürworten, sollten versuchen, eine verbindliche Regelung zu erreichen. In vielen Ländern, auch in Österreich, sind Milchbauern aus den offiziellen Bauernverbänden ausgetreten, weil sie sich von ihnen nicht vertreten fühlen. Auf europäischer Ebene gibt es das European Milk Board, wo sich die Milchbauern koordinieren, die eine andere Politik fordern. Sie wollen die Quoten beibehalten, die Mengen reduzieren und an der Preisgestaltung beteiligt sein.
Eine Preis- und Mengenregulierung innerhalb der EU würde aber auch eine andere Handelspolitik gegen aussen bedingen.
Wenn wir in Europa kleine Betriebe wollen, die ökologisch wirtschaften und gesunde Lebensmittel für alle erzeugen, können wir nicht die Billigkonkurrenz ungehindert reinlassen. Denn das würde wieder Druck erzeugen, die Produktionskosten zu senken. Auch hier ist Kanada interessant: Dort ist der Zoll auf der Importmilch so hoch, dass sie gleich teuer wird wie die kanadische Milch. Den Zoll kann man auch direkt an die Produzenten weitergeben. Die EU hat das lange mit dem Zucker so gemacht: Sie zahlte für importierten Zucker aus den sogenannten AKP-Staaten – Afrika, Karibik, Pazifik – den EU-Preis.
Und die Länder im globalen Süden müssen auf jeden Fall die Möglichkeit haben, Zölle zu erheben und so Billigimporte zu verhindern. Denn Direktzahlungen können sie sich, wie gesagt, nicht leisten. Die Bauern und Bäuerinnen im Süden haben nur eine Chance: Sie müssen ihre Produkte zu einem Preis verkaufen können, der zum Leben reicht.
Mengensteuerung, feste Preise und eine faire Handelspolitik, das wäre die Maximalvariante. Haben Sie auch Vorschläge, die sich schneller umsetzen liessen?
Ja. Entscheidend ist: Die Direktzahlungen müssen ganz klar an ökologische und soziale Kriterien gebunden werden. Und ökologischer heisst kleinräumiger. Je grösser ein Betrieb heute ist, desto mehr Direktzahlungen bekommt er. Das müssen wir ändern: Wir brauchen Obergrenzen für Direktzahlungen.
Die sollen in der Schweiz gerade abgeschafft werden ...
Da ist die Schweiz schlecht beraten. – Es gibt auch den Vorschlag, die Zahlungen nicht mehr an die Grösse des Betriebs, sondern an die Zahl der Menschen zu koppeln, die dort arbeiten. Damit würden Betriebe belohnt, die auf menschliche Arbeit statt auf Maschinen setzen. Das Ziel muss sein, dass es in Europa nur noch soziale, ökologische, nachhaltige Landwirtschaft gibt. Im Oktober stellt die EU-Kommission ihren Vorschlag für die GAP nach 2013 vor. Wir werden dafür arbeiten, dass es in diese Richtung geht.
Alexandra Strickner
Alexandra Strickner (42) ist Ökonomin, Mitgründerin und aktuelle Obfrau von Attac Österreich. Zu ihren thematischen Schwerpunkten gehören Landwirtschaft, Welthandel und Europapolitik. Sie lebt in Wien. Strickner ist Mitherausgeberin des Buches «Ernährungssouveränität. Für eine andere Agrar- und Lebensmittelpolitik in Europa» (Mandelbaum Verlag).