Buch «Die Alpen»: Analysierte Mythen und hinterfragte Klischees

Nr. 42 –

Vom Mittelmeer bis Slowenien, von Exportlehrern bis Vereinsnazis: Jon Mathieu bietet einen Überblick der Geschichte der gesamten Alpen.

Zahlreiche Mägde und Knechte: Hof im österreichischen Hüttau um 1920. Foto: M. Promegger

Schon wieder ein Alpenbuch? Diese Frage stellt der Autor, der Schweizer Historiker Jon Mathieu, in der Einleitung gleich selbst. Als der Reclam-Verlag bei ihm eine Alpengeschichte bestellen wollte, zögerte er zuerst. Aber ein Buch, das einen gut lesbaren Überblick der Geschichte der Alpen bietet, gab es tatsächlich noch nicht. Und Mathieu, der an der Universität Luzern lehrt, hat wirklich den ganzen Alpenraum im Fokus, vom Mittelmeer bis Slowenien. Das ist auch heute noch bei vielen Alpenpublikationen nicht selbstverständlich.

Wer einen Überblick geben will, muss sich beschränken. Mathieu gelingt eine sehr gute Mischung aus Generalisierung und konkreten, einprägsamen Beispielen. Er analysiert Geschichtsmythen wie Hannibals Elefantentreck über die Alpen und hinterfragt historische Klischees: Stimmt es, dass bis ins 18. Jahrhundert ganz Europa die Alpen schrecklich fand? Waren die Alpen im Vergleich zum Umland «rückständig»? (Nein, es gab sogar Regionen wie die französischen Hautes-Alpes, die Lehrer «exportierten».) Vom Bergbau in Tirol bis zu den Nazis in den Alpenvereinen – in diesem Buch gibt es viel zu lernen.

Sehr spannend ist das Kapitel «Wege zum Nationalstaat», in dem der Autor zeigt, wie Macht im Kleinen und im Grossen zusammenhängt. In den feudalistisch geprägten Ostalpen war die ungeteilte Vererbung üblich, Knechte und Mägde (und ihre unehelichen Kinder) machten die Mehrheit der Bevölkerung aus. In den Zentral- und Westalpen waren die Hierarchien weniger formalisiert, und die Erbteilung dominierte, wobei auch die Töchter ihren Teil bekamen. In diesem Raum gab es zum Teil demokratische Strukturen, am ausgeprägtesten wohl in Graubünden, einer «relativ unabhängigen Gemeinderepublik mit ganz lokaler Machtverteilung und ohne klares Zentrum». Graubünden sei «die demokratischste Republik, die es gibt», meinte im 16. Jahrhundert der französische Staatstheoretiker Jean Bodin. Verklärung ist hier nicht zu befürchten – Bodin war überzeugter Monarchist.

Es ist nicht die Aufgabe eines Historikers, in die Zukunft zu schauen. Trotzdem irritiert der seltsam gleichgültig-harmonische Schluss des Buchs. Die Alpen seien heute eine «grossräumige Erholungszone für die wachsenden Metropolen im Umland» geworden. «Trotz aller historischen Narben stehen da weiterhin mehr als achtzig Viertausender, die uns von ferne zulächeln.» Keine wirtschaftlichen Umwälzungen, kein Klimawandel? Die «ökologische Betrachtungsweise» verdüstere den Blick auf die Alpen, schreibt Mathieu. Aber Ökologie ist nicht einfach eine Teildisziplin unter anderen. Sind die ökologischen Grundlagen beschädigt, hat das Einfluss auf alles.

Der Autor liest am Samstag, 
24. Oktober 2015, um 19 Uhr in Affoltern am Albis in der Buchhandlung Scheidegger 
aus seinem Buch.

Jon Mathieu: Die Alpen. Raum – Kultur – Geschichte. Reclam Verlag. Stuttgart 2015. 
254 Seiten. 51 Franken