Umwelt: Was vom Land noch geblieben ist

Nr. 36 –

Umstrittene Autobahnen, Wasserkraft- und andere Projekte bewegten 1987 Schweizer UmweltschützerInnen. Der Journalist Jürg Frischknecht erkundete sie damals in Wanderschuhen. Einige Pläne wurden realisiert, andere nicht. Welche, wo und warum? Eine Bilanz.

  • «Nachhaltigste Autobahn aller Zeiten» oder «heimatzerstörende Weichenstellung»? Autobahnguckfenster beim Bahnhof Knonau.
  • Stelzenförmige Förderung des Verkehrskonsums: Wanderweg im Jonentobel bei Zwillikon.
  • Betonschneisentatort Säuliamt (hier bei Mettmenstetten): «Entzwei geteilt das Ämtlertier, durch Autobahn, genannt N4.»

«Besuchen Sie Europa, solange es noch steht», sang die deutsche Rockgruppe Geier Sturzflug 1983, als die USA ihre Cruise Missiles in Europa stationierten. «Wandert in der Schweiz, solang es sie noch gibt», empfahl 1987 der Journalist und Autor Jürg Frischknecht im Titel seines ersten Wanderbuchs. Darin geht es ebenfalls um Krieg – den Krieg von Menschen gegen die Natur: Auf Schusters Rappen erkundete Frischknecht 35 Gegenden, die «zu Tatorten einer ungebremsten Erschliessung werden könnten». Konkret ging es um Gebiete, die von Verkehrsbauten, Kraftwerken, Waffenplätzen, touristischen Erschliessungs- und nuklearen Entsorgungsanlagen bedroht waren.

Eine seiner Wanderungen führte durchs Säuliamt südlich von Zürich, amtlich Bezirk Affoltern, wo «der Bau der N4 noch immer nicht abgewendet ist». Mit dem Wörtchen «noch» weckte Frischknecht vor dreissig Jahren die Hoffnung, diese umstrittene nationale Autobahn liesse sich verhindern. Mit gutem Grund. Nach damaligen Plänen führte sie ab Birmensdorf oberirdisch mitten durch den ländlichen Bezirk nach Knonau an die Zuger Grenze. Das geplante Betonband schnitt eine breite Schneise in die von Moränen geprägte Landschaft, frass rücksichtslos Wiesen und Äcker, rumpelte auf Stelzen über Wohnsiedlungen, erforderte die Rodung von Wäldern sowie den Abbruch von Häusern. Die Opposition wehrte sich mit Petitionen, Initiativen, Einsprachen, Warnfeuern und kreativen Aktionen gegen dieses «Monster». Unter einer seiner Illustrationen, auf der die Autobahn ein schreiendes Schwein brutal halbiert, reimte der Karikaturist H. U. Steger: «Entzwei geteilt das Ämtlertier, durch Autobahn, genannt N4.»

Die gescheiterten Initiativen

Die Zürcher Stimmberechtigten hatten 1985 ihre Regierung verpflichtet, beim Bund per Standesinitiative die Streichung der N4 zu beantragen; die Gemeinden im betroffenen Bezirk unterstützten die Initiative ebenfalls, die Bundesversammlung aber war dagegen. 1987 reichte der Verkehrs-Club der Schweiz (VCS) seine Kleeblattinitiative ein. Diese verlangte den Verzicht auf drei nationale Autobahnabschnitte, darunter erneut die N4 im Säuliamt. Doch 1990 lehnten die Schweizer Stimmberechtigten die Streichung aller drei Autobahnteile ab. Selbst die Bevölkerung im betroffenen Bezirk stimmte diesmal Nein zur Initiative und damit Ja zur N4, heute A4. Die «gezielte» Eröffnung der Zürcher Westumfahrung vom Limmattaler Kreuz bis kurz vor Birmensdorf, die die Ortschaften im Bezirk Affoltern mit zusätzlichem Verkehr überschwemmte, habe den Stimmungsumschwung bewirkt, analysiert Hans Steiger, ehemals Kantons-, ehemals Nationalrat, ehemals SP-Mitglied, der mit der Gruppe Junge Säuliämtler die Autobahn bekämpfte.

Nach der Kleeblattabstimmung erlahmte der Widerstand. Dazu trug auch der Bundesrat bei, der auf eine alternative Linienführung der N4 einschwenkte. Diese verläuft nun teilweise im Tunnel unter dem Islisberg. Danach ging alles relativ schnell: 1997 genehmigte der Bund das Ausführungsprojekt. 2001 wies das Bundesgericht die letzten Beschwerden ab. 2002 fuhren die Bagger auf. Im November 2009 eröffneten die Behörden von Bund und Kanton die neue Verkehrsschleuse. In seiner Einweihungsrede lobt der einstige Autobahngegner und Bundesrat Moritz Leuenberger: «Die Westumfahrung A3 und ihre Fortsetzung, die A4 durchs Säuliamt Richtung Gotthard, ist die nachhaltigste Autobahn aller Zeiten.» Wirklich?

Ein Augenschein im Säuliamt

An einem sonnigen Tag im Juni 2017 mache ich mich im Bahnhof Knonau auf die Socken, zusammen mit Hans Steiger als orts- und politkundigem Begleiter. Auf Frischknechts Spuren, aber in umgekehrter Richtung, wollen wir schauen, was die A4 aus der Region gemacht hat. Die Autobahn selber sehen wir vorerst kaum. Sie verbirgt sich hinter einer langen Wand, die den Bahnhof und das Dorf Knonau abschirmt. Einzig einige in die Wand eingebaute Fenster geben den Blick auf vorbeiflitzende Autodächer frei.

Auf dem Marsch Richtung Birmensdorf begegnet mir eine Landschaft, wie sie heute im Schweizer Mittelland vielerorts anzutreffen ist: Agrarland, erschlossen mit vielen Strassen und Wegen, Dörfer mit ausfransenden Einfamilienhaussiedlungen, Industrie- und Bürobauten, Streusiedlungen, die die Ohnmacht der Raumplanung in der Schweiz dokumentieren. Die Autobahn selber, die teilweise in Einschnitten verläuft, dazwischen unter die Erde taucht, bevor sie im Islisbergtunnel ganz verschwindet, dominiert nur beim überdimensionierten Anschluss in Affoltern am Albis. Der Geräuschpegel dünkt mich ebenfalls niedriger als im Umkreis von andern Nationalstrassen. Am Rand treffen wir auf kleine Biotope, die die Planer als Kompensation für den grossen Eingriff anbrachten. «Hübsch, jedenfalls schöner als die Agrarwüste rundherum», urteile ich. «Kosmetik», höhnt Steiger, der im Unterschied zu mir im autobahnfreien Säuliamt gelebt und den Wandel erlebt hatte, bevor er nach dieser «heimatzerstörenden Weichenstellung» resigniert ins Tössbergland emigrierte.

Die alternative Route durch den 4,6 Kilometer langen Islisbergtunnel beansprucht weniger Kulturland. Statt über das Dörfchen Zwillikon stelzt die Autobahn jetzt über das abgelegene Jonentäli. Unter seinen mächtigen Betonpfeiler duckt sich eine Holzbrücke – «wie aus einer anderen Welt», konstatiert Steiger. Die Änderungen am Projekt, die die ursprünglich budgetierten Baukosten von 300 Millionen auf mehr als eine Milliarde Franken erhöhten, beurteilt er als «kleinen Erfolg». Den Umstand, dass sich diese Autobahn nicht verhindern liess, wertet er als «grosse Niederlage» mit verkehrspolitisch und raumplanerisch «katastrophaler» Wirkung.

Im Detail mag man Moritz Leuenberger zustimmen: Die sechzehn Kilometer lange A4 durchs Säuliamt schont Landschaft und Siedlungen besser als andere Autobahnen und viel besser als ursprünglich geplant. Der langjährige Widerstand habe sich gelohnt, räumen heute selbst BefürworterInnen ein. Doch eine Autobahn kommt nie allein. Die A4 durchs Säuliamt ist ein Dominostein; er fiel unter dem Druck der Zürcher Westumfahrung, und er macht Druck für weitere Asphaltpisten. Dazu gehören neue Zu- und Abfahrten in der engeren Region sowie der Ausbau des Zürcher Autobahnrings, angefangen bei der dritten Gubriströhre.

Die kantonale Raumplanung postulierte in den siebziger Jahren das Leitbild der «dezentralen Konzentration». Damit sollte das Säuliamt als eigenständige Region mit einem starken Zentrum (Affoltern am Albis) erhalten bleiben. Doch schon die Planung, dann der Bau der Autobahn durchs Säuliamt ins Limmattal und durch den Üetliberg nach Zürich machte das Leitbild zur Makulatur. Das ländliche Amt wandelte sich in den letzten Jahrzehnten zur stark wachsenden Agglomeration im Sog des wirtschaftlichen Wasserkopfs Zürich. Allein in den letzten dreissig Jahren nahm die Zahl der EinwohnerInnen im Bezirk Affoltern um sechzig Prozent und damit doppelt so stark zu wie im kantonalen Schnitt. Noch stärker als die Bevölkerung wuchsen Siedlungs- und Verkehrsflächen sowie PendlerInnenwege, während der Grünraum schrumpfte.

Verkehrsspirale erdrückte den Widerstand

Die Geschichte der A4 im Säuliamt ist typisch für das Schicksal aller umstrittenen Autobahnprojekte, die 1987 erst auf dem Papier existierten und die Frischknecht wandernd erkundete. Dazu gehören: der N1-Abschnitt Murten–Yverdon, die N5 von Solothurn bis vor die Stadt Biel, die Thurgauer N7 von Müllheim ins Niemandsland vor Konstanz sowie die Hochleistungsstrasse durchs Prättigau samt Vereinatunnel mit Autoverlad.

Die meisten dieser Strassen gehören zum 1600 Kilometer langen Nationalstrassennetz, das das Parlament schon 1958 beschlossen hatte. Ein Teil war bereits zementiert, als 1970 die Umweltbewegung auf den Plan trat. Sie thematisierte die ökologischen Grenzen des Wachstums in der Schweiz und bekämpfte die zunehmenden Eingriffe in die Natur. Widerstand gegen einzelne Autobahnteile leisteten zuerst lokale Oppositionsgruppen, später unterstützt von nationalen Linksparteien und den Umweltverbänden. Auf der andern Seite setzten sich Auto- und Bauwirtschaft für die Vollendung und den Ausbau des 1958 beschlossenen Netzes ein.

Noch stärker als die politische Lobby wirkten bereits gebaute Autobahnen: Sie schwemmten immer mehr Verkehr in die noch vorhandenen Lücken, machten Druck, diese zu schliessen. Und jede Lücke, die die Bauleute schlossen, öffnete eine neue. Mehr Strassen bringen mehr Verkehr, und mehr Verkehr fordert mehr Strassen und so weiter. Die Verkehrsspirale knackte früher oder später jeden regionalen Widerstand.

Analog zur N4 wurden in der Schweiz alle umstrittenen Strassenbauprojekte vollendet, gegen die Frischknecht vor dreissig Jahren anlief. Ebenfalls analog zur N4 haben die PlanerInnen unter dem Druck des Widerstands Linienführungen verändert und grössere Teile der anstössigen Autobahnen in Tunnels versteckt. Mit teuren Projektänderungen liessen sich Eingriffe in die Landschaft mildern, Oppositionsgruppen schwächen. Doch der Verkehr bleibt nicht im Tunnel. Überall, wo er wieder ans Tageslicht braust oder die «nachhaltigsten Autobahnen» verlässt, verursacht er neuen Lärm, neue Staus, weitere Bauten, zusätzliche Eingriffe im begrenzten Natur- und Lebensraum. Das Gleiche gilt für die – weniger umstrittenen – Schienenwege. Die 1987 geplanten Bauten für die Bahn 2000, den Vereinatunnel und die Neat-Basistunnel durch den Lötschberg und den Gotthard hat der Bund ebenfalls realisiert, ebenfalls etwas schonender und viel teurer als einst geplant.

Statt Alpentäler Kraftwerkprojekte ersäuft

Den Anstoss, ein Politwanderbuch zu schreiben, lieferten dem Autor Wasserkraftprojekte, die das Bildungs- und Tagungszentrum Salecina 1986 thematisierte. Dazu gehörten neue Stauseen in den Bündner Tälern Avers/Madris, Curciusa, Bercla, der Höherstau des Lago Bianco auf dem Berninapass und des Grimselsees im Kanton Bern. Frischknecht bezeichnete diese Projekte, die die Regierungen der Standortkantone begeistert unterstützten, als «AKW-Filialen in den Alpen». Denn die Stromproduzenten planten, den Anteil von teurer verkäuflichem Winter- und von Spitzenstrom zu erhöhen. Dazu benötigten sie zusätzliche Staubecken. In diese wollten sie mit billigem Bandstrom aus ihren Fluss- und Atomkraftwerken Wasser aus tiefer liegenden Staubecken hinaufpumpen, dort zwischenlagern und dann turbinieren, wenn Nachfrage und Preise im europäischen Strommarkt hoch waren. Dieses Geschäftsmodell bringt zwar einen Stromverlust von zwanzig bis dreissig Prozent, zahlt sich aber aus, wenn die Preisdifferenz zwischen Pump- und Spitzenstrom auf dem Markt grösser ist als die Produktionskosten plus die Verluste des Pumpbetriebs.

Umwelt- und AlpenschützerInnen, organisiert in lokalen Gruppen, wehrten sich gegen diese Projekte. Es sei nicht akzeptabel, so argumentierten sie, letzte, kaum berührte Alpentäler mit eindrücklichen Landschaften, wertvoller Flora und Fauna unter Wasser zu setzen, um mit energetischem Verlust Atomstrom zu veredeln und die Gewinne der Stromwirtschaft zu maximieren. In Frischknechts Buch nehmen diese Pumpspeicher- sowie weitere Wasserkraftprojekte viel Raum ein. Doch im Unterschied zu den damaligen Autobahnprojekten ist dreissig Jahre später nur ein einziges realisiert worden, nämlich die zusätzliche Kraftwerkstufe am Inn zwischen Pradella bei Scuol und Martina im Unterengadin.

Kaspar Schuler, freier Journalist aus dem Aargau, mehrere Jahre Senn und Hirt in Graubünden, später Geschäftsführer von Greenpeace, führte damals den Widerstand gegen das Projekt im Val Madris an. In diesem Seitental des Avers wollten die Kraftwerke Hinterrhein (KHR) ein Speicherbecken mit dem Volumen des Grimselsees ausbaggern und mit dem Aushub den höchsten Damm der Schweiz aufschütten. Damit wäre ein neues Oberbecken entstanden für die Kraftwerkkette, die vom Lago di Lei über den Stausee Sufers hinunter nach Thusis führt. Im neuen Speicher wären die Alpen Preda und Preda-Sovrana ersäuft worden, ein Auengebiet mit Flachmoor, mäandrierenden Bächen, Tümpeln und üppiger Froschpopulation.

1998 begruben die Besitzer der KHR, die Stromproduzenten Axpo, Alpiq, EWZ, BKW und andere, dieses Projekt. Ein hundertprozentiger Erfolg für die Opposition? «Ein hundertprozentiger Erfolg für den Erhalt des Val Madris», antwortet Schuler. So bleibt der ökologische Wert dieses Hochtals bis heute ungeschmälert erhalten, ebenso seine Nutzung als Kuh-, Rinder- und Schafalp. Und rüstige Leute können weiterhin durchs Madris wandern, von Avers-Cröt über die unversehrte Alp Preda-Sovrana, auf einer imposanten Steinplattentreppe hinauf auf den Prasignolapass und hinunter nach Soglio im Bergell.

Wirtschaft steuerte stärker als Politik

Der Abbruch des Kraftwerkprojekts im Val Madris ist nicht allein auf politischen Widerstand zurückzuführen. Mitgeholfen hat die Annahme der Rothenthurminitiative im Herbst 1987. Dieser Abstimmungsentscheid brachte nicht nur das Waffenplatzprojekt auf der Schwyzer Hochebene zu Fall, das Frischknecht in seinem Buch ebenfalls beschrieb, sondern verstärkte auch den Schutz aller Moore in der Schweiz und damit auch des Flachmoors im Val Madris. Den Ausschlag aber gab letztlich die Entwicklung im damaligen Stromgrosshandel. Denn in den neunziger Jahren herrschte in Europa – wie heute erneut – eine Stromschwemme, die die Marktpreise in den Keller drückte und die Differenz zwischen Band- und Spitzenstrom verminderte.

Diese wirtschaftliche Entwicklung machte nicht nur die 600-Millionen-Investition im Madris unrentabel, sondern brach auch anderen geplanten Pumpspeicherkraftwerken das Genick: Das Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (EWZ) zog sein Konzessionsgesuch für einen Pumpspeicher im Val Bercla oberhalb des Marmorerasees 1995 zurück. Das inzwischen zerschlagene Finanzierungsunternehmen Elektrowatt verzichtete 1999 auf sein Projekt im Val Curciusa im Rheinwald. Der frühere EWZ- und spätere NOK/Axpo-Direktor Hans Rudolf Gubser hatte schon 1994 an einer weiteren Tagung in Salecina angekündigt: «Wer Pumpspeicherkraftwerke bekämpft, wird in den nächsten Jahren nicht viel zu tun haben.» Denn der Überschuss an Strom in Europa und die tiefen Preise würden deren Rentabilität auf lange Zeit infrage stellen.

Der spätere Axpo-Direktor Heinz Karrer hat Gubsers Einschätzung offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen. Als nach der Jahrtausendwende die Preise auf dem Strommarkt wieder anzogen, trieb Karrer mit «Linthal 2015» ein anderes, ökologisch weniger umstrittenes Pumpspeicherprojekt voran; dieses soll im Lauf dieses Jahres den Vollbetrieb aufnehmen. Doch schon vor Betriebsbeginn musste die Axpo ihre in den Glarner Kalk gesetzte Investition im Umfang von zwei Milliarden Franken um 540 Millionen Franken abschreiben, weil nach der Hausse die Marktpreise für Spitzenstrom ab 2008 wieder einbrachen.

Andere Wasserkraftprojekte bestehen weiterhin auf dem Papier. Die Kraftwerke Oberhasli (KWO) möchten den Grimselsee höher stauen. Sie haben Oberwasser erhalten, nachdem das Bundesgericht kürzlich den in der Verfassung verankerten Moorschutz relativierte. Die Bündner Repower sitzt weiterhin auf ihrem – ökologisch verbesserten – Ausbauprojekt am Berninapass und wartet auf die nächste Hausse im Strommarkt. Könnten dann auch andere sistierte Projekte auferstehen – etwa in der neuen Funktion als «Windfarmfilialen in den Alpen»? Ausschliessen lässt sich nichts. Doch es scheint aus heutiger Sicht wenig wahrscheinlich. Denn für die Speicherung von Strom gibt es mittlerweile technische Alternativen und damit Konkurrenz zu potenziellen Pumpspeicherwerken. Kaspar Schuler analysiert: «Mit den realisierten und verhinderten Wasserkraftprojekten setzten die Wasserkraftkantone und Stromproduzenten auf baugetriebene Lösungen. Damit haben sie teilweise hohe Verluste eingefahren.» Heute entdecke die Strombranche allmählich, dass sich die Stromversorgung mittels moderner Steuerung, Netzoptimierungen, Smart Grid und dezentraler Speicherung besser und billiger sichern lasse. «Software», sagt Schuler, «ersetzt Betonmischer.»

In der Stromversorgung mag das zutreffen. Im Tourismus flaut der Bauboom ebenfalls ab, seit die Abstimmenden den Bau von Zweitwohnungen dämpften. Weil der Skibetrieb stagniert, wachsen auch Bergbahnen nicht in den Himmel. Im Verkehr hingegen dominieren ungebremst die baulichen Konzepte; unzählige Ausbauprojekte für Strassen und Schienen zeugen davon. Die Erklärung dafür liegt auf der Hand: Der Verkehrskonsum und dessen Förderung entziehen sich der ökonomischen Logik. Dafür sorgen die Zweckbindung der Treibstoffsteuern und die Staatsbeiträge an den öffentlichen Verkehr. Im Tourismus hingegen oder im zumindest teilweise geöffneten Elektrizitätsmarkt versiegen die Investitionen, wenn die ökonomischen Verluste wachsen. Wobei hier einzuschränken ist: Auch Energie und Fremdenverkehr werden auf vielfältige Weise subventioniert.

Globale ersetzen lokale Eingriffe

Von den 35 Projekten, die Jürg Frischknecht 1987 in seinem Wanderbuch beschrieb, sind heute 11 realisiert worden, darunter alle Verkehrsprojekte, der Ausbau von zwei militärischen Schiessplätzen, der Skizirkus Samnaun/Ischgl und das erwähnte Flusskraftwerk Pradella-Martina. Andere Pläne sind nach dreissig Jahren immer noch hängig, etwa der Ausbau des Aarekraftwerks Wynau sowie der Speicher- und Pumpspeicherprojekte am Grimsel und im Berninagebiet. Kleine Wiederbelebungsversuche mit geringer Realisierungswahrscheinlichkeit gibt es immer mal wieder für Kraftwerkprojekte im Alpenrhein und in der Rhone. Endgültig beerdigt sind die AKW-Projekte Graben sowie Kaiseraugst, und die Pläne für Atommülllager haben sich von den Alpen ins Mittelland und ins Zürcher Weinland verschoben. Können wir also die Wanderschuhe im Schrank versorgen im Vertrauen darauf, dass uns die meisten der einst bedrohten Gebiete erhalten bleiben?

Nur bedingt. Denn in den letzten dreissig Jahren sind neue «Tatorte einer ungebremsten Erschliessung» entstanden: Der Bundesrat will die Staus auf vielen Nationalstrassen von zwei auf drei Spuren verbreitern. Der Zürcher Baudirektor plant noch immer die Verlängerung der Oberland- und neu der Glatttalautobahn. Flughafenbetreiber fordern längere Pisten, und die SachwalterInnen der erneuerbaren Energie wünschen sich Windparks in allen Landesteilen.

Zudem ersetzen oder ergänzen globale Bedrohungen nationale und regionale Eingriffe. Der weltweite Klimawandel wirkt sich im Alpenland Schweiz besonders aus. Mehr Dürreperioden bedrängen Bäume und fördern Waldbrände. Mehr Starkniederschläge lassen Böden erodieren und bringen Berge ins Rutschen. Höhere Temperaturen tauen den Permafrost auf, gefährden die Vielfalt an Pflanzen und verändern den Wasserhaushalt. Alte Stauseeprojekte zum Beispiel könnten wiedererweckt werden mit der neuen Begründung, sie müssten den Wasserhaushalt re-regulieren.

«Die Gefahren des 20. Jahrhunderts für den Alpenschutz sind erkannt und teilweise beseitigt worden. Die Gefahren des 21. Jahrhunderts hingegen lassen sich erst teilweise abschätzen», sagt Umwelt- und Alpenschützer Kaspar Schuler. Kommt dazu: Gegen nationale und regionale Projekte, die Natur und Landschaft zerstören, können sich Gruppen von BürgerInnen aktiv wehren. Gegen den Schwund der alpinen Gletscher hingegen wächst kein lokales Kraut. Zudem wirkt sich regionale Betroffenheit nur sehr bedingt auf die globale Politik aus; davon zeugt etwa der ohnmächtige Widerstand der BewohnerInnen von im Meer versinkenden Inselstaaten gegen die klimapolitische Untätigkeit der Regierungen. Aus diesen Gründen bleibt der Aufruf aktuell, den Frischknecht vor dreissig Jahren an die Bevölkerung richtete: «Wandert in der Schweiz, solang es sie noch gibt!»

Jürg Frischknecht: «Wandert in der Schweiz, solang es sie noch gibt». Limmat Verlag. Zürich 1987.

Jürg Frischknecht: Unvollendete Ankündigung

Eine Bilanz zu den Projekten, die er vor dreissig Jahren beschrieb, hätte der Autor Jürg Frischknecht am besten selber gemacht. Im Vorwort seines Buchs schrieb er denn auch: «Anders als in den meisten Wanderbüchern wird ein Teil der Informationen rasch veralten (und ein Zeugnis bleiben für ein kleines Stück Zeitgeschichte). Ich habe deshalb im Sinn, in der WOZ neue Projekte (und wichtige Entwicklungen bei den hier vorgestellten) in ähnlicher Form in loser Folge vorzustellen.»

22 Jahre später, kurz bevor der umstrittene A4-Abschnitt eröffnet wurde, wollte Frischknecht seine Ankündigung zumindest partiell erfüllen. Er kündigte der WOZ eine Reportage über diese umstrittene Autobahn an und wanderte im Herbst 2009 – wie ich im Sommer 2017 – mit Hans Steiger durchs Säuliamt. Doch wenige Tage danach schrieb er der zuständigen WOZ-Redaktorin: «Das mit der A4 war keine gute Idee. Je näher der Termin rückte, desto weniger sah ich ein, weshalb ich nach 22 Jahren auf ‹Wandert in der Schweiz …› zurückkommen sollte – in einer Selbstinszenierung – in der Ich-Form. Ich hätte mir das alles früher genauer überlegen sollen und bitte um Nachsicht.»

Das war typisch für Jürg Frischknecht. «Selbstinszenierung» liebte der ebenso bescheidene wie erfolgreiche Journalist nicht. Ihm ging es um die Sache. Zudem packte er, statt zurückzublicken, lieber Neues an. Davon zeugen zahlreiche Primeurs über politische Missstände, die er in seinem Berufsleben enthüllte. Neue Wege beschritt er auch mit seinen späteren Wanderbüchern, die er zusammen mit seiner Lebenspartnerin Ursi Bauer verfasste.

Was er zwischen Klammern schrieb, trifft zu. «Wandert in der Schweiz, solang es sie noch gibt» bildet ein Stück Zeitgeschichte ab. Dreissig Jahre später ist es an der Zeit, darauf zurückzublicken, zu schauen und zu recherchieren, was daraus geworden ist. Selber konnte Jürg Frischknecht das nicht mehr tun; er starb vor einem Jahr an Krebs. Mit dem Rück- und Ausblick auf dieser Seite haben wir versucht, seinen Vorsatz mit Text und Bild umzusetzen.

Hanspeter Guggenbühl