Eveline Widmer-Schlumpf: Eine Frau unter Dauerbeschuss

Nr. 43 –

Acht Jahre lang bezog Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf von allen Seiten Prügel für ihre Politik. Kämpft die Bündner Musterschülerin weiter?

  • Mit Kakteen im Büro: Dass Eveline Widmer-Schlumpf jedes Gefühl für Glamour abgeht, sorgt für Glaubwürdigkeit.
  • «Die Politkultur ist aggressiver geworden, ganz besonders, wenn die Presse anwesend ist»: Empfängt Eveline Widmer-Schlumpf auch weiterhin im Bernerhof?

Es ist wie immer: Niemand bemerkt ihr Kommen. Chinesen, die bereits am Konferenztisch sitzen, bleiben sitzen. Andere schwatzen oder drehen ihr den Rücken zu. Erst, als sie zügig ihre Reihen abzuschreiten beginnt, springen die Wirtschaftsdelegierten auf. Der Blick der Bundesrätin ist freundlich, ihr Händedruck fest und genau bemessen. Niemand wird bevorzugt. Niemand wird vergessen.

Eveline Widmer-Schlumpf tut nichts, um grösser zu wirken. Im Gegenteil. Sie trägt Schuhe ohne Absatz; schmal Geschnittenes unterstreicht ihren Kinderkörper. Diese Zierlichkeit weckt in andern sowohl Beschützer- wie Bevormundungsinstinkte. Frauen erteilen ihr ungefragt Ratschläge in Sachen Garderobe und Haarfarbe. In Männern verstärkt sie das patriarchalische Gehabe. 1985 hielt es die Schweizerische Volkspartei nicht für nötig, ihr mitzuteilen, dass sie sie als Kandidatin für das Richteramt Trun aufgestellt hatte. 2007 versicherte Bundesrat Ueli Maurer den JournalistInnen: «Ich habe sie im Griff.» Gemeint war: Sie wird sich dem Parteiwillen unterwerfen und auf das Bundesratsamt verzichten.

Weibliche Fügsamkeit garantiert auch ihre Herkunft. In Graubünden haben noch immer die Männer Sagen und Beruf und die Frauen Haushalt und Kinder. Evelines Mutter, eine der ersten diplomierten Bündner Kinderkrankenschwestern, dachte nie daran, nach dem Auszug ihrer drei Töchter wieder berufstätig zu werden. Evelines Grossmutter wusste nach dem Tod ihres Mannes nicht, wie man einen Einzahlungsschein ausfüllt. Geschweige denn einen Stimmzettel: Die letzten Bündnerinnen wurden 1983 wahlberechtigt. An Gemeindeversammlungen wünschte man keine «allzu redegewandten und in politischen Dingen zu impulsiven Damen».

Eveline Widmer-Schlumpf war weder impulsiv, noch fiel sie anderen ins Wort. Sie trumpfte auch nie mit ihrem juristischen Wissen auf. Hielt Distanz zu «Spinnern», wie Feministinnen und Grüne im Kanton bis heute heissen. Und war die Tochter eines ehemaligen Bundesrats, Leon Schlumpf. Damit nicht genug: In Felsberg aufgewachsen, kannte sie den Druck des Dorfes. Wusste, dass auf dem Land jede Neuerung erst mal abgelehnt wird. Dass man sich anpassen und Gemeindeautoritäten respektieren musste. Ohne zu revoltieren, liess sich die Linkshänderin vom Lehrer die linke Hand auf den Rücken binden.

Selbst Bündner Machos kapitulierten vor dieser für Graubünden massgeschneiderten Politikerin: wenn schon eine Frau, dann diese. Zumal es immer schwieriger wurde, für alle Ämter Männer mit vorzeigbarem Schulabschluss zu finden. Dass sie so flink die Karriereleiter hochklettern würde, damit hatten sie freilich nicht gerechnet. Eveline Widmer-Schlumpf wurde nicht nur erste Bündner Notarin und erste Bündner Kreispräsidentin. 1999 übernahm sie auch als erste Bündner Regierungsrätin das tief verschuldete Finanzdepartement. Sieben Jahre später präsentierte sie einen Überschuss von 121 Millionen Franken, den besten Abschluss in der Geschichte des Kantons.

Auch der Bündner SVP-Parteispitze bereitete sie Freude. Anders gesagt: keine Schwierigkeiten. Eigentlich hätte sie gern eine Karriere im Kantonsgericht gemacht. Doch die SVP wollte sie in der Politik: Ihr Fleiss und ihre Dossierfestigkeit waren unentbehrlich in einer Partei, wo man es gern «patschifig» nahm. Dass sie sich an Sitzungen vor dem gemütlichen Teil verabschiedete, war den Männern ganz recht. «Frauen und Hühner lässt man zu Hause», heisst ein Bündner Sprichwort. Zudem passte ihr Entschuldigungsgrund zum Parteiprogramm: Die Familie – Mann, zwei Töchter, ein Sohn – waren ihr wichtiger. Gut, manchmal sorgte sich der eine oder andere Parteifreund über ihr Image als Streberin, Technokratin und Musterschülerin. Und triumphierte, kippte sie mal öffentlich einen Schnaps: «Sie kann auch das, wenn sie will.»

«Sie ist ja so tüchtig», sagt eine Bündner Politikerin und dehnt das Ü auf eine Weise, dass klar wird: So tüüchtig muss halt werden, wer sonst nirgendwo brilliert. Sie trägt der ehemaligen Regierungsrätin auch nach, dass sie sich, obwohl verantwortlich für das Bündner Gleichstellungsbüro, nie sonderlich für Frauenanliegen einsetzte. Eveline Widmer-Schlumpf kontert: «Jede Frau, die will und kann, hat heute die Möglichkeit, ihren Weg zu gehen.» Bitte, sie hat es ja vorgemacht. Tagsüber drei Kinder grossgezogen, von denen eines mit einem schweren Herzfehler zur Welt kam. Und nachts für die Notarprüfung gebüffelt. «Die Erfahrung der Angst um das Leben meines Kindes hilft mir bis heute, Problemen gegenüber eine gewisse Gelassenheit zu entwickeln.»

Die Macht der Zahlen

Herbst 2015. Bern ist aus dem Sommerschlaf erwacht, Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf wirkt entspannt. Sie eröffnet Ausstellungen, spricht bei der Pro Rätia in Splügen, bei der Distisuisse in Bern und fährt nach Münchenstein an einen Anlass der Wirtschaftsförderung Baselland. Im feierabendlich überfüllten Basler Tram vermutet niemand die Finanzministerin unter den StehpassagierInnen. Am Bügel neben ihr hängt ihre Kommunikationsleiterin Brigitte Hauser-Süess: «Wir kommen immer mit öffentlichen Verkehrsmitteln.» Die Bundesrätin trägt eine weisse, kreisrunde Retrosonnenbrille, laut Gravur ein Werbegeschenk aus Zermatt. Das Ding verfremdet sie stärker als jede Perücke. Manchmal wird sie trotzdem erkannt. Die meisten sagen etwas Nettes. «Die andern schreiben anonyme Briefe», ergänzt Hauser-Süess. Die Walliserin macht, auch im übertragenen Sinn, einen überaus trittsicheren, geländegängigen Eindruck. Zudem kann sie mit ihrer grossen Tasche ihre fragile Chefin jederzeit vor Zumutungen jeglicher Art schützen.

In Münchenstein warten die VeranstalterInnen vor dem Hauptportal, dort, wo Prominente in ihren schwarzen Limousinen vorzufahren pflegen. Doch die Finanzministerin kommt zu Fuss und durch einen Nebeneingang. Im Vortragssaal biegt sie mit geübtem Griff das Mikrofon auf ihre Höhe herunter, dann beginnt sie unverzüglich mit ihrer Rede über die Unternehmenssteuerreform III. Ihr Manuskript besteht ausschliesslich aus Zahlen. Den dazugehörigen Text, das Hintergrundwissen, kann sie jederzeit im Gedächtnis abrufen. «Zahlen sind kompakt und präzis. Man erkennt in kurzer Zeit sehr viel. Eine Bilanz sagt mehr als ein ganzes Buch.» Zahlen sind ihre Geheimwaffe; mit Zahlen munitioniert zieht sie vertrauensvoll in jede Schlacht. Mit Zahlen schlug sie schon manchen schlampig vorbereiteten Gegner k. o., bevor er wusste, wie ihm geschah. Das verzeihen ihr viele nicht.

Für die Wirtschaftsprofis im Saal ist die Reform so klar wie ein Migros-Kassabon. Laien sind hoffnungslos überfordert. Bereits verlangte der Ständerat mehr Zeit zum Studium. Sie verstehts ja. Doch die Zeit drängt: «Internationale Unternehmen scheuen die Schweiz, solange zu viel Steuerunsicherheit besteht.» Die Umstellung wird vermutlich zu Steuerausfällen von 1,7 Milliarden Franken führen. «Doch die Alternativen kosten mehr.»

Es ist ihr altes Problem: Hoffnungslos hinkt die schwerfällige Demokratie den internationalen Entwicklungen hintennach. «Natürlich», sagt sie, «kann man zehn Jahre lang eine Sache prüfen. Aber es geht jetzt darum, bald einen machbaren Weg zu finden.» Das Tempo, das sie dabei vorlegt, irritiert viele. Sie wiederum, getrieben von der Ungeduld der Klassenbesten, tut sich schwer mit der Begriffsstutzigkeit der HinterbänklerInnen. Um ihre Anliegen zu beschleunigen, sucht sie gerne Verbündete, um den mühseligen Instanzenweg zu umgehen.

Doch an Verbündeten fehlt es häufig. Weder hat sie eine Hausmacht, noch ist sie sozial vernetzt. Wenn zu später Stunde in Bars oder Hinterstübli die Fäden gezogen werden, ist sie nicht dabei. Auch im Ausland gehört sie als Finanzministerin eines Landes, das sich von internationalen Organisationen fernhält, nirgends dazu. «Ich brauchte viel Zeit, um mich vorzustellen.» Inzwischen kommt es, ob in Washington oder Berlin, Rom oder Brüssel, rasch zu unkomplizierten Treffen.

Viel Ausland für eine Frau, deren Leben sich fünfzig Jahre lang auf den paar Kilometern zwischen Felsberg und Chur abgespielt hatte. Nie wollte Widmer-Schlumpf ins Unterland ziehen, geschweige denn noch weiter weg. Selbst das Juspraktikum absolvierte sie in der Kantonshauptstadt. Ebenso viel Beständigkeit zeigt ihr Privatleben. Ihr Mann war schon ihr Schulschatz. Ihr Geburtsort Felsberg ist noch immer ihr Wohnsitz. Ihre im Kindergarten geschlossenen Freundschaften halten bis heute. «Mein Umfeld bleibt immer gleich. Es ist immer alles wie immer. Ich bin für sie die Gleiche und umgekehrt.»

Die Sprengkandidatin

Am 12. Dezember 2007 überraschte die überraschungsärmste Politikerin der Schweiz die ganze Nation. Wie es dazu kam, darüber gibt es so viele Versionen wie AkteurInnen. Sicher ist: Ausgeheckt hat den Plan der damalige SP-Nationalrat Andrea Hämmerle; MitverschwörerInnen kamen aus der CVP und der Grünliberalen Partei. Gemeinsam wollten sie mit Sprengkandidatin Widmer-Schlumpf den verhassten Christoph Blocher aus dem Bundesrat hebeln. Der Coup gelang. Widmer-Schlumpf wurde mit zehn Stimmen Vorsprung auf Blocher zur neuen Bundesrätin gewählt.

Später werden, wie in einem Krimi, Beweise gesammelt, Telefonanrufe und SMS gezählt. Hat die Neobundesrätin vorher in den Machtpoker eingewilligt? Andrea Hämmerle sagte: «Sie hat es nie ausgeschlossen.» Ueli Maurer dagegen hörte den sicheren Verzicht aus ihrem Satz, sie könne sich nicht vorstellen, ohne Fraktion zu politisieren. Sie selbst sagt, erst die nächtliche Familientelefonkonferenz mit den zugeschalteten Töchtern und deren «Probiers!» hätten den Ausschlag gegeben. «Mit der Wahlannahme wollte ich zeigen, dass es in der SVP auch Leute gibt, die andere Auffassungen respektieren.» Die überrumpelten Volkspartei-Strategen rufen «Sauerei!» durch die Hallen des Bundeshauses. Der Bundessicherheitsdienst findet es besser, die Neugewählte im Auto nach Felsberg zurückzufahren.

Das Berner Büro, das die neue Justizministerin drei Wochen später bezieht, scheint mit einem Fluch beladen. Bundesrat Friedrich musste es vorzeitig wegen Krankheit räumen, Elisabeth Kopp wegen eines Telefonats. Ruth Metzler und Christoph Blocher wurden abgewählt. Und jetzt dringt das Halali der SVP immer bedrohlicher durch seine wattierten Türen. Es kommt zu wüsten Jagdszenen. Die neue Bundesrätin wird Meuchelmörderin, Totengräberin der Konkordanz und Lügnerin geschimpft. Bundesrätin nicht wegen ihrer Verdienste, sondern weil sie Nicht-Blocher ist. «Man hätte auch einen Kartoffelsack mit der Aufschrift SVP hinstellen können – er wäre gewählt worden», lästert Christoph Mörgeli.

Die Gelästerte macht, was sie in Krisen immer macht: Sie arbeitet noch mehr. Fünf Stunden Tiefschlaf genügen ihr. Anfangs besuchte sie ihr Mann Christoph regelmässig in der Hauptstadt. «Abends nach Bern, morgens zurück nach Chur an die Arbeit.» Dann merkte er: «Das bringt nichts.» Auch für ihn war ihre Wahl überraschend gekommen: «Plötzlich war die Frau weg.» Nicht zum ersten Mal übrigens. Schon kurz nach der Heirat und eben zum ersten Mal Mutter geworden, lebte sie ein halbes Jahr bei ihren Eltern in Bern, um ihnen über den Unfalltod ihrer Schwester Carmen hinwegzuhelfen.

Hodlers Holzfäller, das Lieblingsbild ihres Vorgängers, hatte sie umgehend aus ihrem neuen Büro entfernt. An seine Stelle hängte sie Alois Carigiets Harlekin, dekorativen Bündner Heimatstil. Nicht so leicht zu entfernen waren die Blocher-Getreuen in ihrem Departement. Ihre Befreiungsschläge treffen auch bewährte Asylpolitikfachleute, die bei der Neuausrichtung des Dossiers fehlen. Genüsslich arbeitet sich die SVP an ihr ab. Mokiert sich über ihre Versuche, einen Überblick zu gewinnen. Belächelt ihre schulmeisterliche Art, Dokumente mit Rotstift zu korrigieren. Bald steht sie im Ruf, ein zickiger Kontrollfreak zu sein, der alles staatlich regulieren will.

Ihre vielen Kündigungen geben selbst im Bundesrat zu reden. «Sie irritierten uns», sagt ihr damaliger Bundesratskollege Moritz Leuenberger. In Chur dagegen sieht sich mancher grimmig bestätigt. Bis heute trägt man ihr dort die Entlassung eines erfahrenen Chefbeamten nach. Ebenfalls unvergessen, wie sie ihrem politischen Konkurrenten Peter Aliesch nach der berühmten Pelzmantelaffäre um angebliche passive Bestechlichkeit den politischen Todesstoss versetzte. Und dies, obwohl er bald auf der ganzen Linie rehabilitiert wurde. «Sie ist halt überkorrekt», verteidigt sie Andrea Hämmerle. Freisinnige Bündner Kreise dagegen sprechen von einer «eiskalten, intriganten Karrieristin», die jeden aus dem Weg räumt, der ihr zu widersprechen wagt.

Im Volk freilich kommt ihre Art an. Dass ihr jedes Gefühl für Show und Glamour abgeht, sorgt für Glaubwürdigkeit. Gleichzeitig umgibt sie der gehässige SVP-Dauerbeschuss mit einer neuen Aura von Verletzlichkeit. 2008 wird sie zur Schweizerin des Jahres gewählt. Hätte es damals schon das Wortspiel gegeben, es hätte «Wir sind Eveline» geheissen.

Ohne Spektakel und Beschimpfungen

Es ist die Ironie des Schicksals, dass just Evelines Vater die Partei mitbegründete, die seine Tochter jetzt gnadenlos verfolgt: Er hatte seine Bündner Demokraten in der SVP aufgehen lassen. Doch die Ehe zwischen SVP Graubünden und SVP Schweiz klappte von Anfang an nicht. «Wir ticken anders», sagt Eveline Widmer-Schlumpf. In manchen Bündner SVP-Familien wird bis heute das moderate Gedankengut der ehemaligen Bündner Demokraten weitervererbt wie das Weihnachtsmenü. Fleiss und Kompromisse sind wichtiger als Polterer und raffinierte Vordenker. Dazu kommen Stilgründe. Auf BündnerInnen wirken Blocher, Mörgeli und Co. als lärmige Newcomer, unangenehme Eiferer und Rüpel. Als sich die Bündner SVP weigert, das Messerstecher-Plakat aufzuhängen, watscht Zürich sie ab wie einen Schulbuben.

Heute hat die 2008 gegründete BDP die abtrünnigen Bündner SVP-Mitglieder und Eveline Widmer-Schlumpf aufgefangen. Wie gross der Unterschied zwischen beiden Parteien ist, zeigen die Delegiertenversammlungen. Bei der SVP rauscht der Fahnenwald, Blasmusik lädt zum Schunkeln ein, und durch die Reihen schieben sich triumphal die Bäuche. Witze über politische Gegner werden mit Grölen quittiert. Bei der letzten BDP-Delegiertenversammlung vor den Oktoberwahlen schmücken lediglich ein paar Tupfen Gelb, die Parteifarbe, die kahlen Wände der Kaserne Aarau. Statt Bier fliesst Weisswein. Statt Berge von Nüdeli und Schweinsschnitzel an Rahmsauce wird gepflegter Gemüserisotto serviert. Ganz nach dem Geschmack der Chefin. Sie ist Vegetarierin. Tapfer versucht ein bunt verkleideter Animator, Stimmung zu verbreiten. Das Publikum spielt gutmütig mit, wie Erwachsene an einem Kindergeburtstag. Doch Spektakel sind dieser Partei und ihrer Bundesrätin so fremd wie wüste Beschimpfungen. Letztere nimmt den Namen Blocher seit Jahren nicht mehr in den Mund. Der Glarner BDP-Präsident Martin Landolt umschreibt ihn, wie einen Gott-sei-bei-uns, mit «Der von Herrliberg».

Sichtlicher Ärger zerrt an seinem hageren Berglergesicht. Gestern hat er den Medien die neuste Parteiidee vorgestellt: Gutscheine für soziale Einsätze in Familie und Gesellschaft. «Fünf Journalisten sind gekommen», sagt er. Kaum ein Echo. «Und danach fragt man mich wieder, woraus eigentlich unser Parteiprogramm besteht.»

Der Fluch ist: Dieses Programm lässt sich nicht in die gewünschte griffige 20-Sekunden-Formel pressen. «Wir haben kein alleinstehendes Merkmal, wie es die Politologen nennen», erklärt Eveline Widmer-Schlumpf. Auch die Konkurrenz punktet mit Energiewende und Bilateralen. «Und präsentieren wir neue Ideen dazu, fehlt uns die Lautstärke, um sie zu verbreiten.» Nicht nur in den Medien, auch im Bundeshaus: Mit nur zehn ParlamentarierInnen verpufft auch der beste Vorschlag wirkungslos.

Politisch sieht sich Eveline Widmer-Schlumpf «in Sachen Wirtschaft rechts von der Mitte, in Sachen Gesellschaft und Umwelt links von der Mitte. Also steh ich in der Mitte.» Für die Rechten freilich ist sie eine linke Verräterin, die mit ihren «Sololäufen» und «vorauseilendem Gehorsam gegenüber der OECD» die Schweiz an den Abgrund bringt. Den Brief des freisinnigen Parteipräsidenten, in dem er drohte, ihr das Steuerdossier zu entziehen, hat sie für ihre Enkelkinder aufbewahrt. Sie sollen wissen, wie rüpelhaft sich manche PolitikerInnen benehmen.

Und es sind ja nicht nur die PolitikerInnen. Auch die Presse drischt pausenlos auf sie ein. Ein Bundeshauskorrespondent beschreibt sie als «trocken wie ein Weihnachtsguetzli an Ostern». Auf dem Bildschirm wirkt sie angestrengt und auf der Hut. Längst ist das Misstrauen gegenseitig. Sie hat gelernt, dass es «im Finanzbereich nur wenige Journalisten gibt, die die Dossiers wirklich gut kennen. Viele Berichte sind oberflächlich.» Was den Medien an Wissen fehlt, machen sie mit harten personenbezogenen Schuldzuweisungen wett. «Die Politkultur ist aggressiver geworden, ganz besonders, wenn die Presse anwesend ist. Jeder will sich profilieren.»

Im Gegenzug weigert sie sich, griffige Statements zu liefern. Ihre Lieblingsantwort lautet: «Das sehen wir dann.» Lässt sich ein Problem nicht wegdiskutieren, «müssen wir hart daran arbeiten». Harte Fragen dimmt sie mit einem «So kann man das nicht sagen» herunter. Auf die meistgestellte Frage, ob sie dieses Jahr zum dritten Mal als Bundesrätin antritt, gibt sie schon längst keine Antwort mehr.

Zudem ist alles Private tabu: «Diese Firewall ist mir wirklich gelungen.» Es gibt weder Geschichten noch Anekdoten von ihr zu erzählen. Weder hat sie ungewöhnliche Hobbys noch Lieblingstiere. Ihr literarischer Geschmack bewegt sich zwischen Franz Hohler und Eveline Hasler, ihr musikalischer zwischen Ländlermusik und Beethoven. Alles, was die Öffentlichkeit von ihr weiss: Sie wandert gerne und ist gerne Grossmutter. Exklusiv für die WOZ fügt sie bei: «Eben hab ich von Samstag bis Montag einen Enkel gehütet.» Filmwechsel nennt sie es.

Erst wollte sie ihre Enkel an den BDP-Familiensonntagsbrunch in Volken mitnehmen, der kleinsten Zürcher Gemeinde. «Dann war das doch zu umständlich», sagt sie beim Anstehen am Brunchbuffet. Mitgenommen hat sie dafür ihren Mann. Er besitzt in Chur ein Ingenieurbüro und ist auf Grossprojekte wie Tunnels spezialisiert. Familiäre Anlässe wie dieser Brunch sind eine der wenigen Möglichkeiten, sich auch am Wochenende zu sehen. Tatsächlich sitzt das Paar unter dem Parteivolk, als sässe es in der eigenen Stube. «Eveline ist so was von natürlich und unkompliziert», sagt ihr Mann Christoph Widmer.

Es riecht nach frischem Zopf, es fliesst der Honig, Symbol des Bienenfleisses, mit dem die Partei wirbt. «Sind Sie jetzt Primarlehrerin oder Politikerin?», will eine betagte Frau wissen. Eveline Widmer-Schlumpf lacht: «Das ist fast das Gleiche.»

Fern der lauten Öffentlichkeit geben ihr viele Wegbegleiter nur die besten Noten: Sie dreht keine Pirouetten und erfindet keine Bubenstückchen. «Was sie sagte, galt», sagt der damalige Mitbundesrat Moritz Leuenberger. «Sie machte stets solide Finanzpolitik», attestiert ihr Daniel Zuberbühler, Ex-Finma-Direktor, der mit ihr zusammen die UBS vor dem Untergang rettete. «Besonders in der Krise leistete sie hervorragende Arbeit.» Für Andrea Hämmerle hat sie in den letzten acht Jahren alle Erwartungen übertroffen. «Niemand hätte das besser machen können. Und zwar nicht, weil sie eine Linke wäre, sondern weil sie bürgerliche Sachpolitik machte.»

Ihre grösste Tat: Sie schaffte das Bankgeheimnis, dem ihr Vorgänger Hans-Rudolf Merz noch «sieben Leben» attestiert hatte, in nur drei Jahren und praktisch im Alleingang ab. «Sie tat es ja nicht aus Begeisterung», sagt Daniel Zuberbühler. «Sie handelte unter ausländischem Druck. Dann aber ging sie entschlossen und konsequent ihren Weg.» Inzwischen sind selbst die Banken erleichtert über den automatischen Informationsaustausch zwischen in- und ausländischen Steuerämtern.

«Darüber bin ich wirklich froh», sagt sie den vierzehn Davoser GymnasiastInnen im Bernerhof. Sie hat sich verspätet. Das Treffen mit der US-amerikanischen Justizministerin Loretta Lynch war nicht geplant. Loretta ist eine Frau nach ihrem Geschmack: «Sie spricht schnörkellos. Wir haben uns auf Anhieb verstanden.» Ihre Augen, im Fernsehen oft schlaflos, glänzen.

Beim Mittagessen nimmt sie die Fragen der SchülerInnen so ernst wie die Fragen erwachsener Unterhändler. Als Folge spiesst sie noch immer Salatblättchen auf die Gabel, als die SchülerInnen längst beim Dessert sind. Aufhebung des Bankgeheimnisses auch im Inland? Klar, antwortet sie, es gelte das Vertrauensprinzip. Nicht alle freilich würden dieses Vertrauen rechtfertigen. «Schliesslich förderte die seit 2010 bestehende Offenlegung von nicht versteuerten Geldern Milliarden zutage.» Dann wieder, ganz mütterliche Gastgeberin: «Wer will Espresso, Milchkaffee, Tee?»

«Es müffelt hier»

Seit sie 2011 ins Finanzdepartement gewechselt hat, sitzt sie im wohl schönsten Büro des Bernerhofs. Es öffnet sich auf eine grosse, halbrunde Terrasse, Sonnenlicht flutet durch die Fensterfront. Der Prunkraum ist keineswegs zu gross für sie. Im Gegenteil. Unter ihrer Energie scheint er zu schrumpfen. Besonders, wenn sie resolut die Arme verschränkt: «Wir müssen Dampf machen. Sonst läuft die Entwicklung an uns vorbei.»

Überall stehen Kakteen, ihre Lieblingspflanze. Ein Exemplar schenkte ihr die «Schweizer Illustrierte» für ihren Vorschlag einer staatlichen Kinderbetreuungsbewilligung sogar für Verwandte. Nachträglich fand sie die Idee auch nicht sonderlich geglückt. Sonst freilich weicht sie von einmal gefassten Entschlüssen nicht mehr ab: «Wenn ich überzeugt bin, dass das hilft, dann schalt ich auf stur.» Sie überlegt einen Augenblick und korrigiert: «Auf konsequent.»

Die Tür zur Terrasse steht meistens offen. «Es müffelt hier», sagt sie. Niemand weiss, warum. Pflanzen gehen ein, Bilder bröckeln. Die anstehenden grossen Probleme in ihrem Departement sind nicht mit blossem Lüften zu lösen. «Da kommt noch viel auf die Schweiz zu», sagt sie. Es ist ungewiss, ob diese Warnung schon an ihren Nachfolger gerichtet ist.

Die Bündnerin Margrit Sprecher ist mehrfach preisgekrönte 
Reporterin und Buchautorin.