Wahlen 2011: Ein Parlament auf brüchigem Eis

Nr. 33 –

Blocher-Abwahl, UBS-Rettung, AKW-Verbot: Ein Rückblick auf die vergangene Legislaturperiode zeigt, wie die «bürgerliche Wende» im Fiasko endete und trotzdem keine neue Politik folgte. Die Linke darf bei den Parlamentswahlen am 23. Oktober nicht nur ihren Besitz wahren.


Das Land schien betrunken in jenem Herbst. Betrunken vom Geld, von der Macht, vom imaginierten Hass.

Der Wahlkampf 2007 war der bisher teuerste aller Zeiten. Und nie zuvor waren die Mittel so ungleich verteilt gewesen: 16,4 Millionen Franken gab die SVP für Plakat- und Inseratewerbung aus. Die Freisinnigen folgten mit weniger als der Hälfte, die übrigen Parteien unter «ferner liefen». Die Ausgaben für Plakate und Inserate der SVP lagen damals im September hinter denen von Migros, Coop und Swisscom. Aber noch vor denen von Nestlé, H&M oder UBS.

Das Thema der Partei waren, wie immer, die anderen: Mit Schafsplakaten wurde die Ausschaffungsinitiative gegen AusländerInnen lanciert. Letztlich aber ging es um den eigenen Machtanspruch: «Blocher stärken, SVP wählen.»

Der Milliardär Christoph Blocher war 2003 in den Bundesrat gewählt worden. Zuvor hatte sich UBS-Boss Marcel Ospel für seine Wahl starkgemacht und CVP-Bundesrätin Ruth Metzler telefonisch zum Rücktritt aufgefordert. In Blochers Schatten folgte Hans-Rudolf Merz: Seine Karriere hatte in der UBS-Kaderschmiede Wolfsberg begonnen. Es war eine Regierung von der Grossbank Gnaden. Auf die Champagnerlaune an der Börse sollte, so die Hauptprotagonisten jener Wahl, eine «bürgerliche Wende» in der Politik folgen.

Im Machtrausch

Vier Jahre später hatten die meisten Medien die Distanz zum Machtrausch verloren. Der Originalton jener Tage, hier aus einer Bilanz des «Tages-Anzeigers» zu Blochers Bundesratstätigkeit: «Ein brillanter, hart arbeitender Analytiker und Stratege, der alles hinterfragt, der gestaltet und führt. Nichts ist mehr sicher vor seiner Kritik, und das ist gut so.» Kurz vor der Wahl erschien im «Magazin» ein Porträt Blochers: «In elf Tagen wird er wiedergewählt.» Bei einem Tee in Herrliberg kündigte Blocher an, das Jahr 2008 zum «Jahr der Durchsetzung» zu machen. Das Porträt hatte den Titel «Kenne deinen Gegner!» und war mit einem Starschnitt illustriert.

Am 12. Dezember 2007 wird Blocher vom Parlament abgewählt. Es trifft den Selbstdarsteller an der Achillesferse: in seiner Eitelkeit. Damit begann die Legislatur.

Die WOZ war übrigens die einzige Zeitung, die vor der Bundesratswahl schrieb, dass Blocher nicht nur abgewählt werden müsse, sondern dass dies auch rechnerisch möglich sei. Um das angedrohte Oppositionsprojekt der SVP vorwegzunehmen, lancierten wir die Parteizeitung «Der Schweizer». Zugegeben, ein kleiner Beitrag. Aber im Sinn, wie wir uns linke Politik vorstellen: einigermassen beschwingt. Noch besser war die Abwahl: äusserst beschwingt.

Die Legislatur endete 2011, wie sie begonnen hatte: Mit einem seltenen Erfolg für Mitte-links. Nach der AKW-Katastrophe von Fukushima änderte die CVP ihre Energiepolitik: Ausgerechnet Doris Leuthard, die früher im Verwaltungsrat der Kernkraftwerk Leibstadt AG sass, kündigte ein Bauverbot für neue Atomkraftwerke an, nicht aber den Ausstieg aus der Atomenergie.

Zwischen der Blocher-Abwahl und dem AKW-Verbot liegen vier harte, unerfreuliche Jahre, die einiges über die Politik in diesem Land erzählen. Die UBS-Rettung, der Angriff auf die Sozialwerke und die fremdenfeindliche Diskriminierung sind dabei die wichtigsten Themen.

Im Herbst 2008 drohte dem Finanzsystem nach dem Fall von Lehman Brothers bei einem neuerlichen Bankenkonkurs der Zusammenbruch. Am 16. Oktober retteten der Bund und die Nationalbank die UBS mit 68 Milliarden Franken, weil sie sich im US-Hypothekengeschäft zuvorderst verspekuliert hatte. Die Finanzmarktaufsicht brach für die Grossbank das Bankgeheimnis, damit ihr in den USA nicht der Prozess wegen krimineller Unterstützung reicher SteuerbetrügerInnen gemacht würde.

Im Bundeshaus zeigte sich erstens: Der Staat und die Wirtschaft sind nicht als Gegensatz zu begreifen, wie die Apologeten des freien Marktes glauben machen wollen. Sie stehen vielmehr in einem Wechselspiel, in dem die Interessen aller BürgerInnen und die von Privatpersonen ausgehandelt werden.

Zweitens: Wer profitiert, zeigt sich an der Richtung, in der sich die Diener verneigen. In diesem Fall hiessen die Diener Hans-Rudolf Merz und Kaspar Villiger. Der einstige UBS-Mitarbeiter und spätere Finanzminister Merz informierte seine RegierungskollegInnen so lange nicht über die UBS-Krise, bis er gesundheitlich einen Zusammenbruch erlitt. Der ehemalige Finanzminister und neue UBS-Verwaltungsratspräsident Villiger versprach, er werde Konzernchef Oswald Grübel um eine gemässigte Wortwahl gegenüber der Politik bitten: «Ich selbst bin ein höflicher Mensch und werde nie laut.»

Drittens: Politik wird häufig gemacht, indem keine Politik gemacht wird. Die UBS-Rettung, so teuer wie drei Neat-Tunnels, wurde per Notrecht beschlossen. Abgesehen von verschärften Eigenmittelvorschriften in der laufenden «Too big to fail»-Vorlage gab es für die Grossbank keine Auflagen. Eine parlamentarische Untersuchungskommission, die nicht nur die Rolle der Aufsicht, sondern auch das Gebaren der Bank untersucht hätte, wurde vom Ständerat verhindert.

Auch Hans-Rudolf Merz ging erst später, ganz ohne machtpolitische Auseinandersetzung, gefeiert als bester Kassenwart aller Zeiten. Bis dann Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf ein Loch in der Kasse entdeckte: ein Milliardengeschenk an Grossaktionäre im Rahmen der Unternehmenssteuerreform II.

Sozialabbau und Diskriminierung

Häufig hört man, die Politik sei machtlos, unheimliche Finanzmärkte allein bestimmten das Schicksal. Wäre dem so, würden kaum Millionen in Kampagnen gesteckt. Vielmehr kommt es bei der Frage nach der Wirkmächtigkeit der Politik darauf an, wohin man blickt: auf den selbstgefälligen Personenzirkus, aus dem PolitexpertInnen mit ihren Vermessungsmethoden längst ein Geschäft gemacht haben. Oder in die nüchternen Gesetzesbotschaften, in denen die grössten Frechheiten stecken.

Wenn es jetzt heisst, die Umverteilung nach oben in den letzten Jahrzehnten sei die Hauptursache für die globale Wirtschaftskrise gewesen – dann konnte man die Fortsetzung dieser Entwicklung in der Schweiz in der letzten Legislatur genau beobachten. Die niederträchtigste Vorlage betraf die Arbeitslosenversicherung, über die im September 2010 abgestimmt wurde. Eine sogenannte Sanierung war nötig geworden, weil der Bundesrat die Arbeitslosenzahlen zu tief berechnet und die Beiträge gesenkt hatte. Anstatt nur die Beiträge wieder zu erhöhen, glich er das Loch zur Hälfte mit Leistungskürzungen für Erwerbslose aus.

Es war der einzige Angriff auf die Sozialwerke, der den Bürgerlichen in den letzten vier Jahren gelang: Bei den Pensionskassen wurde er an der Urne gestoppt, bei der Unfallversicherung und der 11. AHV-Revision bereits im Parlament. Den GewerkschaftsvertreterInnen ist es zu verdanken, dass der Sozialabbau im Vergleich zum übrigen Europa nicht vorankommt. Eine stärkere Umverteilung nach unten lässt allerdings ebenfalls auf sich warten: Die Einführung eines flexiblen Rentenalters scheiterte, ebenso die Steuergerechtigkeitsinitiative.

Den RechtspopulistInnen gelang hingegen der Durchmarsch bei der Migrationspolitik: Erstmals wurden ihre Initiativen direkt angenommen, bisher erfolgten Verschärfungen stets in Regierungsvorlagen nach gescheiterten Vorstössen. In dieser Legislatur wurde die Diskriminierung gleich zweimal in der Verfassung festgeschrieben: Bei der Minarettinitiative wurde eine bestimmte Religion diskriminiert, der Islam, bei der Ausschaffungsinitiative eine Bevölkerungsgruppe, die «AusländerInnen». Damit wurden Prinzipien der Verfassung wie die säkulare Trennung von Staat und Religion oder die Verhältnismässigkeit beschädigt.

Eine Abmachung

In diesem Herbst ist das Land nun nicht mehr betrunken, es scheint vielmehr irritiert. Die Banken verbreiten keine Euphorie mehr, nur Oswald Grübels schnarrende Stimme hält die Gewinnprognosen aufrecht. Der Ausschluss, den die SVP propagiert, ist mit dem Slogan «Schweizer wählen SVP» maximal. Derweil sagen die Leute im Zugsabteil: «Ich mag diese Plakate nicht mehr sehen.»

Wenn es heisst, die Schweiz sei bisher gut durch die Krise gekommen – dann stimmt das ideell nicht: Nationale Heiligtümer wie Bankgeheimnis oder AKW-Kühltürme sind eingestürzt. Von der «bürgerlichen Wende» ist ein Trümmerfeld übrig geblieben. Ihre Protagonisten, Blocher und Merz, kamen gemeinsam und gingen fast gemeinsam. Geblieben ist ihr Programm. Wenn es sich nochmals durchsetzt, dann in einer gespenstischen Variante.

Wie könnte stattdessen eine andere Politik aussehen? Wenn man die prägenden Themen «UBS-Rettung», «Angriff auf die Sozialwerke» und «Fremdenfeindliche Diskriminierung» zusammenbringt, zeigen sich zwei Entwicklungen: Die fortdauernde Umverteilung von unten nach oben, die sich in der servilen Haltung gegenüber den Grossbanken wie im starken Druck auf Löhne und Renten zeigt. Und eine Krise der Demokratie, sichtbar in der Käuflichkeit der Politik, der Bankenrettung per Notrecht und in der Torpedierung des Rechtsstaats durch die Mehrheit. Es könnte also um eine einfache Grundabmachung gehen: dass der Wohlstand wieder gerechter verteilt wird und dass Schluss ist mit der Fremdenfeindlichkeit.

Wie lässt sich eine solche Politik durchsetzen? Politik, das zeigte die letzte Legislatur, bewegt sich auf brüchigem Eis. Sie ist gerade nicht als Wende oder Umsturz zu denken, sondern als permanente Aushandlung, als wiederholter Gründungsprozess. Begriffe wie «Demokratie» oder «Solidarität» sind nicht gegeben, sondern müssen laufend erstritten und dadurch erneuert werden. Das zeichnet gerade die «1:12»-Initiative der Juso aus mit ihrer Idee, dass in einem Betrieb kein Lohn zwölfmal höher sein darf als der tiefste. Oder die Forderung des Grünen Jo Lang, das Minarettverbot wieder aufzuheben: Die Verhältnisse sind stets verhandel- und veränderbar.

Um eine solche Aushandlung geht es auch bei den Parlamentswahlen am 23. Oktober. Wo stehen die einzelnen Parteien nach den letzten vier Jahren?

Eine Annahme

Die SP hat, vom Sicherheitspapier bis zum Parteiprogramm, am meisten diskutiert. Was als ideologische Debatten belächelt wurde, hat unter dem Einfluss der Juso zu mehr Selbstbewusstsein geführt: Der Wahlslogan «Für alle statt für wenige» ist zumindest der treffendste seit langem. Von den Grünen und ihrem älteren, sozialen Flügel und dem jüngeren, wirtschaftsfreundlichen hätte man gerne mehr interne Diskussionen gehört, beispielsweise zur Wachstumskritik. Dafür behielt die Partei bei der Migrationspolitik recht: Sie stieg bei der Ausschaffungsinitiative nicht auf das Appeasement des Gegenvorschlags ein, das später scheiterte.

Die CVP, die Grünliberalen und die BDP bilden einen neuen Block in der Mitte. Er ermöglichte bei der Blocher-Abwahl oder dem AKW-Verbot Mitte-links-Mehrheiten. Bei den Sozialversicherungen oder der Steuerpolitik erwies er sich eher als Mitte-rechts-Block, sofern es nicht um die Familie ging. Die Selbstauflösung der FDP schreitet ungehindert voran und führte zuletzt zur Enthaltung bei der Atomfrage. Wenn Dick Marty im Herbst aus dem Ständerat zurücktritt, erübrigt sich die Suche nach dem letzten Liberalen.

Die SVP blieb eine Marketingmaschine, die die Leitunterscheidung Schweizer–Ausländer propagandiert. Damit verwischt sie die sozialen Gegensätze. Man könnte sich ja auch zuerst als Beschäftigter oder als Mieterin fühlen. In der Wirtschaftskrise nahm die SVP diverse Kurswechsel vor. Die einzig erkennbare Logik: Hauptsache, keine Einschränkung für die Reichen.

Um eine Prognose zu wagen: Innerhalb der Blöcke SP-Grüne und vor allem CVP-GLP-BDP werden Sitze wechseln, vielleicht können sie insgesamt auch leicht zulegen. Für die Bundesratswahl als Spiegelbild der Kräfteverhältnisse im Parlament heisst das: Selbst wenn die SVP ihr Wahlziel von dreissig Prozent erreichen sollte, wird sie einen zweiten Bundesratssitz nur auf Kosten der FDP einfordern können.

Eveline Widmer-Schlumpf wird voraussichtlich wiedergewählt. SVP und FDP haben somit weiter keine Regierungsmehrheit. Widmer-Schlumpf ist eine durch und durch bürgerliche Politikerin – aber als ehemalige Regierungsrätin weiss sie immerhin, dass sich der Staat auch finanzieren muss.

Das Tabu scheint weg

Und doch findet dieser Wahlkampf in der tiefgreifendsten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg statt. Die Linke muss, nur schon zur Verteidigung der Demokratie, mehr als ihren Besitz wahren. Mittlerweile haben konservative Publizisten wie der Thatcher-Biograf Charles Moore oder FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher eingestanden, dass die Linken in ihrer Analyse des Neoliberalismus recht hatten.

Aber das heisst noch lange nicht, dass die Linken recht bekommen werden.

Die SVP hat von 2007 bis 2010 insgesamt 35 Millionen Franken ausgegeben, im neuen Wahlkampf sollen weitere 15 Millionen folgen – das wären dann 50 Millionen in fünf Jahren. Die Linke hat nur einen Bruchteil davon zur Verfügung. Statt die Köpfe mit einem immer gleichen Motiv zu beeinflussen, kann sie wenigstens die Gegengeschichte zu den letzten vier und mehr Jahren forterzählen.

Das alles ist nicht mehr als eine Andeutung, vieles wurde weggelassen: Der Steuerwettbewerb zwischen den Kantonen, das Profitdenken in den Köpfen. Und vieles wurde noch gar nicht angesprochen: die Abhängigkeit des Wachstums von den Ressourcen, die Schweiz als Wohlstandsinsel.

Die Möglichkeit, dass sich eine solche Erzählung weiterverbreitet, ist zumindest vorhanden. Denn was zur Blindheit der letzten Jahre führte, speziell auch der konservativen Schweizer WelterklärerInnen, war genau dies: dass jede soziale Fragestellung und jede linke Erklärung verneint wurde.

Dieses Tabu scheint gebrochen. Es bleiben zwei Monate Zeit.