Medientagebuch zur Bärfuss-Debatte: Hau den Lukas

Nr. 43 –

Florian Keller über das Echo auf den Schweiz-Essay von Lukas Bärfuss

«Was riecht, wird auf den Balkon gehängt.» So stand es in Lukas Bärfuss’ Essay «Die Schweiz ist des Wahnsinns», erschienen in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Und genau so haben es seine Kritiker in den Medien mit ihm gemacht: Sie haben Bärfuss, den Stinker, auf den Balkon gehängt, zum Auslüften. Aus der Nase, aus dem Sinn. Er ist ja auch lästig, dieser Lukas Bärfuss: ein raunender Prophet des Untergangs, und sein Warnfinger hat eine Dauererektion.

Doch dann passierte etwas Seltsames. Der Essay wuchs, weil jede neue Replik unfreiwillig mehr Wahrheit hineinschaufelte. So, wie die Schweizer Medien darauf reagierten, bestätigten sie nur von neuem die Diagnosen des Dichters. Lust an der Debatte, Bereitschaft zum Streit? Fehlanzeige. Gerade die Kritik, die Bärfuss an den Medien übte, stank diesen offenbar so sehr, dass sie gar nicht erst darauf eingingen. Journalisten spielten lieber Oberlehrer und unterzogen den Dichter einer Stilkritik oder warfen ihn auf die Couch, wie er das mit dem Land getan hatte.

Guido Kalberer etwa, Kulturchef beim «Tages-Anzeiger», bekundete erst seine «helle Freude» an dem «furiosen Essay», um Bärfuss dann seine Fehler vorzurechnen, darunter ein falsch gesetztes Anführungszeichen – wie zur Bestätigung dessen, was dieser zum geistigen Klima im Land geschrieben hatte («Ein Volk von Zwergen will man hierzulande sein und bleiben»). Und wer gar keine Lust auf eine Debatte hatte, schimpfte den Schriftsteller einfach einen «literarischen Grobmotoriker» («Basler Zeitung») und holte dazu einen toten Meister, der sich nicht mehr wehren kann, aus dem Schrank: Thomas Bernhard, der hatte das noch drauf mit der Kunst der Nestbeschmutzung!

Anderswo äusserte sich der Wahnsinn in einem Aktionismus mit schizoiden Zügen: Der «Neuen Zürcher Zeitung» war die Tirade des Dichters nicht weniger als drei Repliken und Kommentare von drei verschiedenen Autoren wert. Einer davon, Literaturredaktor Roman Bucheli, schrieb erst anerkennend von einem «furiosen Rundumschlag in bester Frisch-Manier», um denselben Essay nur einen Tag später als «sprachlich wie gedanklich schwachen Text» zu verreissen. Eine peinliche Kapriole? Nein, das erste Urteil will Bucheli inzwischen ironisch gemeint haben. Das wäre ja erfreulich: Die NZZ entdeckt plötzlich die Ironie – wenn nicht als Stilmittel, so zumindest als Alibi.

Lange wird das nicht anhalten. So muss man folgern, wenn man die Replik von Buchelis künftigem Vorgesetzten René Scheu liest. Über ihn schreibt Bärfuss: «Qualifikationen? Unnötig.» Das klingt hämisch. Aber tatsächlich: In seinem offenen Brief an Bärfuss gesteht der designierte NZZ-Feuilletonchef, dass er auch nach dreimaliger Lektüre des inkriminierten Essays keine Anzeichen von Ironie darin entdeckt habe. Auch eine Form von Selbstentblössung.

Sein Versagen als Leser macht Scheu wett, indem er andere Dinge entdeckt: «In mindestens jedem zweiten Schweizer steckt ein Nazi.» Woher er das wissen will? Bei Bärfuss kann man das beim besten Willen nirgends herauslesen. Aber wenn einem die Argumente ausgehen, kann man sich ja auf Unterstellungen zurückziehen. Die Schlagzeile über Scheus Replik, eigentlich auf Bärfuss gemünzt, erweist sich so als Selbstbezichtigung: «Gegen den bösen Feind ist jedes rhetorische Mittel legitim …»

Der Essay von Bärfuss funktioniert wie ein Rorschachtest: Sag mir, was du daraus herausliest, und ich sage dir, wer du bist.

Florian Keller ist WOZ-Redaktor.