Der Sprayer von Zürich: Lautloser Protest
Harald Naegeli ist zurück: Der Kunsthistoriker Felix Thürlemann hat in Zürich ein neues Werk des Sprayers entdeckt, just an der Stelle, wo der umstrittene Ergänzungsbau des Kunsthauses entstehen soll.
Harald Naegeli bin ich zweimal persönlich begegnet. Nein, nicht nachts, da arbeitet er allein. Das erste Mal an einem besonderen Diaabend bei einer Bekannten im Seefeld. Ende der siebziger Jahre hatte ich als junger, begeisterter Kunsthistoriker bei meinen Stadtspaziergängen regelmässig die anonymen Strichzeichnungen fotografisch festgehalten, die damals überall, vor allem am unteren Zürichberg, plötzlich auftauchten und die Stadt zunehmend mit einer zweiten Bevölkerung aus dem Reich der Fantasie bereicherten: Strichmännchen mit einem Auge im Dreieck als Kopf, dazu wandernde Fische und Fabelwesen, aber auch abstrakte Zeichen, schnell, aber präzise und unglaublich gekonnt mit einer schwarzen Farbdose direkt, ohne eine Möglichkeit der Korrektur, an die Wand gesprüht.
Von den Produkten der Nachahmer, die es bald auch gab, waren die «echten» Figuren, wie mir schien, leicht zu unterscheiden. In meinen Augen repräsentierten diese Zeichnungen vieles von dem, was man damals als neue, progressive Kunst ersehnte, etwa die Unabhängigkeit vom institutionellen Kunstsystem, von den Museen und Galerien, die Spontaneität der Geste, den inhaltlichen Bezug des Bildes zum Ort seiner Anbringung und vielleicht auch eine Prise antibürgerlicher Provokation, wie sie hinter den überraschenden Interventionen des Sprayers natürlich auch steckte.
Eine Auswahl aus diesen Aufnahmen, eine prall gefüllte Kassette, führte ich dem Autor bei unserer ersten Begegnung vor. Das war an jenem Diaabend in den neunziger Jahren, als fast alle der dokumentierten Arbeiten inzwischen zerstört waren. Ende 1979 war Harald Naegeli auf frischer Tat verhaftet und anschliessend wegen wiederholter Sachbeschädigung in Abwesenheit zu neun Monaten Gefängnis und einer saftigen Geldbusse verurteilt worden. Er flüchtete daraufhin nach Deutschland, wo ihm der berühmte Künstleraktivist Joseph Beuys zu einer Professur an der Düsseldorfer Akademie verhalf. Schliesslich musste Naegeli seine Haftstrafe dennoch absitzen.
Zurück in Zürich, sah er sich nun die Aufnahmen seiner alten Arbeiten ruhig und vermutlich auch etwas gerührt an. Es war keine Niete darunter. Ich hatte den Kennerschaftstest bestanden.
Die zweite Begegnung war zufällig, vor zwei Jahren, vor einem Gemälde von Arnold Böcklin im Zürcher Kunsthaus. Es entspann sich ein interessantes Gespräch über Böcklins Farbwahl, seine Experimentierfreudigkeit, seine Kunst überhaupt.
Ein Double des nächtlichen Sprayers
Die ZürcherInnen haben noch immer ein gespaltenes Verhältnis zu Naegelis nicht bestellter Kunst im öffentlichen Raum. Viele HausbesitzerInnen haben sie in aufwendigen Verfahren entfernen oder übermalen lassen. An einigen Orten jedoch, an öffentlichen Gebäuden vor allem, hat man einzelne Sprayzeichnungen restauriert und mit einem Schutzlack gesichert. Heute ist es um den «Sprayer von Zürich» ruhig geworden, doch verschwunden ist er nicht.
Nahe beim Kunsthaus ist Naegeli jetzt erneut tätig geworden. Am Heimplatz, an einer der beiden für den Abriss vorbereiteten Turnhallen, die dem Kunsthaus-Erweiterungsbau von David Chipperfield weichen müssen, hat er eine Figur gesprayt, wie immer raffiniert platziert, an der Ecke bei der Kantonsschulstrasse. Die gesprayte Figur ist – auch dies die Regel – erwachsenenhoch, genauer naegeligross, ein Double des nächtlichen Sprayers, dann aber auch ein Partner für alle, die tagsüber durch die Stadt flanieren und nicht in ihrer Karosse eiligst vorbeifahren. Die Figur stand direkt unter der grossen Sandsteintafel, die mit Gold ausgeziert den schönen alten Spruch trägt: «sit mens sana in corpore sano» – ein gesunder Geist soll in einem gesunden Körper sein, der perfekte Turnhallenspruch, der mittlerweile auch als Zeitgeistmotto dienen könnte. Um die Inschriftentafel zu retten, wurde diese inzwischen fein säuberlich aus der Wand herausgelöst. Wer weiss, in welchem Depot sie enden wird.
Die neue Figur ist zweifellos ein echter Naegeli, aber doch merkwürdig untypisch. Etwas böse wirkt sie mit ihrem weit aufgesperrten Maul und den scharfen Zähnen, aus der die zackige Zunge springt, durch ein gleichförmiges Pendant am Hinterkopf im Gleichgewicht gehalten. Zwei gegeneinander versetzte Augen hat die Figur und dazu, in den Kopf integriert, ein weibliches Geschlecht. Ein zusätzlicher kleiner Penis ziert als Ausgleich gendergerecht den Hinterkopf. Der Körper ist nicht mit den für Harald Naegeli üblichen Insektenbeinen gestaltet, sondern als Dreieck mit zwei Armen. Naegeli hat offenbar die Joan-Miró-Ausstellung im Haus gegenüber mit seinem Skizzenbuch besucht, und er hat sich das Plakat, das gross an der Fassade des Bührle-Saals in Sichtweite hängt, genau angeschaut: Seine Figur kann man als einen ziemlich erbosten Miró-Menschen lesen.
Lebendige Geste als Antwort
Den Abriss der Turnhalle zugunsten von Chipperfields Erweiterungsbau wird Naegelis Miró nicht aufhalten können. Die Figur wird zusammen mit der Mauer, die sie trägt, verschwinden: ein geplanter Selbstmord der Kunst, jener von Naegeli, aber indirekt auch jener der grossen Kunst, wie sie Miró auf dem Kunstmarkt vertritt und wie sie in der etwas merkwürdig leer wirkenden Ausstellung mit seinem Spätwerk im Kunsthaus gerade gefeiert wird. Eigentlicher Grund für die Ausstellung ist die Erinnerung an eine Auftragsarbeit des alten Miró: die vom Seidenfabrikanten Gustav Zumsteg finanzierte Keramikmauer, die man getrost als wenig geglückt bezeichnen kann und die heute meist unbeachtet im Patio des Kunsthauses herumsteht: kontextlos, ohne Bezug zur Geschichte der Stadt, ohne Bezug zum wirklichen Leben. Die von Naegeli geschaffene besprayte Mauer aber, seine Antwort in der Form einer lebendigen Geste, wird vermutlich nicht überleben.
Harald Naegelis Intervention wirft erneut eine wichtige Frage auf: Kann Kunst, die nicht signiert und nicht bestellt ist und darüber hinaus nicht einmal etwas kostet, gute, wichtige Kunst sein? Die Antwort muss lauten: Ja, sie kann. Sie kann es immer wieder, gerade dann, wenn sie flüchtig ist, wie im Fall der von Naegeli gesprayten Figur. Sie ist – bald muss es wohl heissen: sie war – eine etwas zwiespältige Hommage an den grossen spanischen Maler und gleichzeitig das originelle persönliche Statement eines engagierten Zürcher Künstlers zum Kunsthaus-Streit – und vielleicht auch zur umstrittenen Erweiterung des Kunsthauses.
Naegeli lieferte seinen Beitrag zur kulturellen Debatte in der ihm adäquaten Form eines Kunstwerks, das dazu bestimmt ist, wie das mündliche Wort zu verhallen, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Felix Thürlemann (69) war bis 2014 Professor für Kunstwissenschaft/Kunstgeschichte an der Universität Konstanz. Er lebt in Zürich.