FM4: Sondierung der Gegenwart

Nr. 45 –

Immer einen Schritt voraus: Seit zwanzig Jahren verbindet der Wiener Sender FM4 Pop, Politik und Kritik auf unnachahmliche Weise.

«You’re at home, baby», schallte es im Januar 1995 in die österreichischen Wohn- und Schlafzimmer. Der Wiener Radiosender FM4 ging zum ersten Mal auf Sendung. Damals teilte sich die Radiostation die vierte Hörfunkkette des ORF noch mit dem englischsprachigen Diplomatensender Blue Danube Radio. Erst ab 19 Uhr schickte FM4 seine komisch-absurden Botschaften und experimentell-durchgeknallten Sounds in den Äther und machte dabei vor Landesgrenzen nicht halt. In der Ostschweiz blieb man auf der Suche nach DRS 3 (105.6) schnell bei FM4 (102.1) hängen und hörte begeistert mit. In den einmal wöchentlich ausgestrahlten Sendungen mit klingenden Namen wie «Tribe Vibes», «House of Pain» oder «Im Sumpf» fand man ein Zuhause jenseits des Mainstreamradios.

Seit 2000 läuft der Sender im Vollprogramm, die stündlich ausgestrahlten und hochaktuellen Nachrichten blieben englischsprachig. Mutete die gleichberechtigte Verwendung zweier Sprachen in den neunziger Jahren vielen noch seltsam elitär an, ist sie in der Zeit von Migration und Postmigration identitätsstiftend geworden. Das Internet und Social Media nutzen FM4-Chefin Monika Eigensperger und ihre Truppe gekonnt als interaktive Kanäle. Heimische Bands wie Ja, Panik, Attwenger oder Wanda blieben keine musikalischen Randphänomene, der Sender machte sie zu internationalen Stars der Hitparaden und Feuilletons.

Ein Highlight bleibt die Sendung «Im Sumpf» von Fritz Ostermayer, Leiter der Wiener Schule für Dichtung, und Thomas Edlinger, freischaffender Kurator. Ihre Sendung verstehen die beiden als «Labor zur Sondierung der Gegenwart».

Je prekärer unser Dasein, desto aufgedrehter, wortgewaltiger, eifriger sind Edlinger und Ostermayer bei der aufklärerischen Arbeit: So auch in der vergangenen Sommerserie «Winterzeit – Das Ende aller Dinge». Zu Gast waren bei den beiden «Sumpfisten» einflussreiche zeitgenössische Denker wie Armen Avanessian, Mark Fisher oder Klaus Theweleit, vorgelesen wurde aus Wladimir Sorokins düsterem Zukunftsentwurf «Telluria» oder aus Thomas Raabs dystopischem Roman «Die Netzwerk-Orange».

Den Soundtrack lieferten Vince Staples nihilistische Raps, die Laptopmusikerin Holly Herndon, die Blackmetaler Defheaven oder die zornigen Girl Band. Unterstützt wurden sie dabei von Katharina Seidler, die seit ein paar Jahren mit «Die Unordnung der Dinge» die musikalische Welt im Sumpf vermisst. Der Sonntagabend bleibt die richtige Zeit, um sich in eine verwilderte Parallelwelt zum Fernsehen und zum Feuilleton zu begeben.

fm4.orf.at