Schlusswort aus Winterthur: Die verfängliche Gnade der lauten Geburt
Manche Radiosender sind klein. Manche Popmusik ist klein. Der Wunsch nach Grösse geht von falschen Voraussetzungen – auch wenn er von klugen Kulturtheoretikern kommt.
Fangen wir mit Zahlen an. Mit grossen Zahlen zu einem kleinen Sender. In dem, was bei der nicht kommerziellen Winterthurer Radiostation Stadtfilter der «heavy rotation» der Formatradios entspricht, also der Menge an Songs, die sich im Musikprogramm wiederholen sollen, stecken rund 3000 Titel. Die Wiederholung ereignet sich im Normalfall nicht nach ein bis zwei Stunden, sondern eher nach ein bis zwei Wochen. In einem Monat kann man auf Stadtfilter etwa 45 Spezialsendungen zu Musiksparten hören, zu Blues, Rap, Indie, Metal oder einfach zur Richtung «Musik, die so neu oder auch so abgefahren ist, dass sie keine Stilbezeichnung hat».
Supergeil, mag die Musikfreundin denken. Allerdings: Kein Mensch hört Radio Stadtfilter. Zumindest nach den Ansprüchen der Werbewirtschaft. Der Anteil an der schweizweiten Hörerschaft liegt im sehr kleinen einstelligen Prozentbereich. Daran, dass es weltweit eine Unsumme ähnlich gearteter Radiosender gibt, ob auf UKW oder im Internet, leiden nicht nur die vielen Menschen, die dort schlecht oder gar nicht bezahlt arbeiten. (Anmerkung: Das Leiden ist strukturell zu verstehen, denn wenn diese Leute gerade ihre Sendung machen, leiden sie natürlich nicht.) Daran leiden auch fortschrittlich denkende KulturtheoretikerInnen. Mark Fisher, der zurzeit wohl prominenteste unter ihnen, konstatierte im Februar in der WOZ: «Dieser Überfluss kaschiert letztlich nur, wie kümmerlich ein grosser Teil dessen ist, was heute geschaffen wird.» Und, mit Bezug auf die für kreative Arbeit seines Erachtens nach notwendigen finanziellen, zeitlichen und realen Freiräume: «Der Neoliberalismus hat diese Form von Raumzeit systematisch abgeriegelt.»
Ein Akkord genügte
Die 200 unbezahlten MitarbeiterInnen von Radio Stadtfilter stehen genau wie die Handvoll mies bezahlten für das Umsichgreifen einer makabren Gesellschaft der Freiwilligkeit. Etliche politische, soziale, kulturelle Arbeit wird «freiwillig» geleistet, weil ihre Effizienz nicht bewiesen ist. Die Evaluationsindustrie aber, die massgeblich mithilft, diese Effizienz als unbeweisbar zu deklarieren, boomt. Mit Konzepten für Einsparungen am Menschenmaterial kann man sehr gut Geld verdienen. Wie sagte Fisher? «Man kann den Neoliberalismus als Angriff auf die soziale Sicherheit im Allgemeinen verstehen.»
Im Umgang mit Popmusik freilich ist Fishers Argumentation weniger schlüssig. Er und mit ihm unzählige Menschen vornehmlich seiner Generation (Fisher ist 47), die in refraingleichen Klagen davon sprechen, dass es leider keine neuen Beatles und keinen neuen Punk mehr gebe, übersehen, dass Popmusik einfach Kunst ist. Die Kunst mit der Gnade der lauten Geburt. Oder dem Fluch der lauten Geburt. Wie mans nimmt.
Pop fiel in den sechziger Jahren wie eine ekstatische Naturkatastrophe über eine in Strebsamkeit erstarrte Nachkriegsgesellschaft herein. Er konnte das freilich nur, weil zuvor die elektrifizierten Instrumente erfunden worden waren. Die ehrbaren US-Folkies hätten noch ewig ihre Pamphlete zu trauter Gitarrenbegleitung singen können, es wäre nichts passiert. Die Beatles und andere brauchten nur einen Akkord durch vibrierende Membranen zu jagen, und sofort spürten viele, dass hier eine Erschütterung im Gange war. Ohne E-Gitarre kein Pop. Und wohl auch nicht die Gegenkulturrevolte der sechziger Jahre.
Durch Zufall hatte Pop Mittel in die Hand bekommen, die es ihm zu einer bestimmten Zeit ermöglichten, jungen Menschen einzufahren, als wäre er der Leibhaftige. Zweifellos war das eine für KapitalismuskritikerInnen attraktive Zeit, aber es hat keinen Sinn, auf ihre Wiederkehr oder auch nur ihre Variation in der Zukunft zu hoffen. Pop ist Allgemeingut geworden. Viele Menschen wollen Pop machen. Die Beatles hätten heute Glück, wenn sie einen Plattenvertrag bekämen. Bob Dylan würde ausserhalb von obskuren Kellern verlacht werden. Innerhalb dieser Keller aber hätte man möglicherweise ein aufrüttelndes Erlebnis, gemeinsam mit zwanzig anderen.
Die Frage nach der Musik der nächsten revolutionären Bewegung ist eine genauso verfehlte Frage wie die nach dem «nächsten grossen Ding». Man teilt mit solchen Fragen der Popmusik einen Zweck zu, den sie, will sie gut sein, nicht haben darf. Denn PopmusikerInnen sind KünstlerInnen. Wie Maler oder Schriftstellerinnen oder Balletttänzer auch. Sie setzen sich mit der Welt auseinander und machen daraus Musik. Die interessanten Bands unter ihnen können die Hirne und Körper derer, die ihnen zuhören, in produktive Unruhe versetzen. Können einen Wunsch nach dem Mehr, nach Andersartigkeit einfangen und sogar versuchen zu pflanzen. Wie Maler oder Schriftstellerinnen oder Balletttänzer auch. Bei einer vermutlich überschaubaren Zahl von Menschen. Mehr ist nicht drin, aber das ist eine ganze Menge.
Tote Hosen in der Oper
Will man wie Fisher «den Mainstream wieder besetzen», führt das zu Hochnotpeinlichkeit. Man denke nur an die Toten Hosen, die konservativen Politikern verbieten wollten, ihre Songs im Wahlkampf zu benutzen, anstatt sich selber zu fragen, was es über ihre Lieder aussagt, wenn sie so eingesetzt werden können. Und die dann zum nächsten Auftritt in die Wiener Staatsoper fahren. Der Widerstand gegen den Neoliberalismus muss sich an den gemeinsam als unerträglich erkannten Verhältnissen entzünden. Einen einheitlichen Soundtrack wird er nicht haben. Fussball-WMs haben einen einheitlichen Soundtrack.
Auf Radio Stadtfilter oder ähnlich gearteten Radiosendern wird man diesen nicht hören. Zumindest nicht in dem Teil des Programms, der von der Musikredaktion kontrolliert wird. Dort kann man Entdeckungen machen und sich an eine unmonotone Gegenwart gewöhnen. Dort können Moderatorinnen versuchen, Songs durch Ansagen mit Witz und Bedeutung aufzuladen. Ja, es ist eine versprengte Welt, und die Ursachen dieser Versprengtheit sind nicht alle erfreulich. Wer aber wie Fisher dagegen mit Pop «von der Grösse der Beatles» ankämpfen will, verbindet das Uninteressante mit dem Unmöglichen.
Dominik Dusek (47) hat das Radio Stadtfilter in Winterthur mitgegründet und arbeitet dort heute zu zwanzig Prozent. Er verfasst Hörspiele und betreut beim «Züritipp» das Ressort Musik.