Frauenhäuser: Weg vom Täter-Opfer-Schema
Das System anonymer Frauenhäuser könnte durch ein offenes System ergänzt werden. Bei den Frauen ist das umstritten.
Isabelle Derungs fühlte sich falsch verstanden. Die Stiftungsrätin des Frauenhauses Aargau-Solothurn hatte Anfang 2014 einen delikaten Vorstoss gemacht. Solothurn wolle ein öffentliches Frauenhaus einrichten, und zwar nach dem Vorbild Hollands, wo sogenannte Oranje Huisen den daheim von Gewalt betroffenen Frauen Schutz, aber keine Anonymität bieten. Was folgte, war eine mediale Debatte, in der das Modell der offenen Häuser gegen die bewährten anonymen Schutzhäuser mit geheimer Adresse ausgespielt wurde. Dabei ging mehrheitlich unter, dass der Vorschlag nicht als Alternative, sondern als Ergänzung zum heutigen System gedacht ist. «Unser Modell stösst an Grenzen», sagt Derungs über die nicht öffentlichen Frauenhäuser an geheimen Orten. «Öffentliche Frauenhäuser würden dort eine Lücke schliessen, wo in der Schweiz die Gewaltprävention sonst aufhört.»
Der Fokus liegt auf Repression
Was den Umgang mit häuslicher Gewalt in der Schweiz angeht, hat sich in den letzten zehn Jahren viel getan. Nach den Opfern, deren Schutz dank der Frauenbewegung während Jahrzehnten immer weiter verstärkt worden war, nahm man die Täter ins Visier. Seit 2004 ist häusliche Gewalt in der Schweiz ein Offizialdelikt. Zudem beschritt man neue Wege bei der polizeilichen Intervention: Gewalttätige Männer können heute in Akutsituationen ohne Prozess aus ihrem häuslichen Umfeld weggewiesen werden. Vor diesem Hintergrund erstaunen die neusten Erhebungen zur Häufigkeit häuslicher Gewalt in der Schweiz: Abgesehen von leichten Schwankungen, blieb die Anzahl registrierter Fälle zwischen 2009 und 2014 gleich hoch. Polizeilich registriert wurden im letzten Jahr gut 15 000 Fälle. Siebzig Prozent der Täter sind männlich.
National ist das Thema «häusliche Gewalt» derzeit besonders brisant: Im Herbst hat der Bundesrat eine Vernehmlassung über die Genehmigung der Europaratskonvention zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen («Istanbul-Konvention») eröffnet und zahlreiche Studien in Auftrag gegeben. Sie decken die Mängel des Schweizer Systems auf: Hohe Prozesskosten hindern Opfer von häuslicher Gewalt in vielen Fällen daran, Anzeige zu erstatten. Wird dennoch prozessiert, üben die Täter häufig Druck auf die Opfer aus, weil diese die Möglichkeit haben, den Prozess zu sistieren. Im Rahmen des Opferschutzes will der Bundesrat die Prozesskosten streichen und einen Prozessstopp nur noch mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft. Zudem will er mittels elektronischer Fussfesseln die Repression gegen die Täter verstärken.
Der komplexen Situation der Frauenhäuser aber wird mit den bundesrätlichen Vorschlägen kaum Rechnung getragen. Trotz der verbesserten Präventionsmassnahmen sind anonyme Schutzhäuser stark ausgelastet. 2013 waren die insgesamt 299 Betten der achtzehn Schweizer Frauenhäuser durchschnittlich zu siebzig bis neunzig Prozent belegt. Weil es sich um Notunterkünfte handelt, schwankt die Auslastung stark. Immer wieder müssen deshalb Frauen ab- oder weitergewiesen werden. Hier setzt die Diskussion um offene Frauenhäuser an. «Gäbe es bessere Anschlusslösungen, würden die Plätze in den Frauenhäusern schneller wieder frei für akute Notfälle», sagt Susan A. Peter, Vorstandsmitglied der Dachorganisation der Schweizer Frauenhäuser. «Wir müssen deshalb breiter werden in unserem Angebot. Doch das bedingt eine ideologiefreie Debatte.»
Die «orangen Häuser»
Wer sich in ein Frauenhaus begibt, dem bezahlt der Wohnkanton einen durchschnittlichen Aufenthalt von drei Wochen. Weitere Massnahmen hängen von der Wohngemeinde ab. Rund ein Drittel der Frauen, so viel besagt eine Studie, kehren nach einem Frauenhausaufenthalt ohne weitere Begleitung in ihre Beziehung zurück. Das liege nur zum Teil an fehlenden Anschlusslösungen wie bezahlbaren Wohnungen, sagt Peter. «Oft empfinden die Frauen die Zeit im Frauenhaus als viel zu kurz, um weitreichende Entscheide über ihre Zukunft zu fällen.»
«Orange Häuser», wie sie Holland kennt, dienen als Sozialisierungsraum zwischen der akuten Intervention und einem Leben danach. Sie sind nicht mehr anonym, aber gut gesichert. Und nicht für alle Frauen geeignet: Es müssten sorgfältige Abklärungen über die Gefährdungslage der Frauen getroffen werden, sagt Isabelle Derungs. «Mir schweben überregionale Häuser vor, die geeignete Frauen aus verschiedenen Kantonen aufnehmen könnten.»
Die Einführung dieses Konzepts wäre aber auch ein Paradigmenwechsel. In Holland sind die «orangen Häuser» Kompetenzzentren, die Opfer- und Täterarbeit dank der Anwesenheit unterschiedlicher Fachstellen verbinden. Wenn Männer zur Mitarbeit bereit seien, könne das deeskalierend wirken, sagt Derungs. «Auf der anderen Seite steigert sich in manchen Fällen die Aggression, wenn Frauen in der Anonymität verschwinden.»
Akzeptanz für die Idee öffentlicher Frauenhäuser zu schaffen, dürfte in der Deutschschweiz schwierig werden. Bedingungslose Parteinahme für die Opfer gehört hier zu den Säulen der Frauenhauspolitik. Während es in der Romandie einzelne öffentliche Frauenhäuser gibt, herrscht in der Deutschschweiz die gewachsene Überzeugung, dass eine Schutzunterkunft auf Frauen ausgerichtet sein und Täterarbeit andernorts stattfinden sollte. «Das hat die heftige Debatte gezeigt, die nach unserem Vorstoss losbrach», sagt Derungs. Kompliziert ist die Umsetzung auch wegen der föderalistischen Strukturen. Überkantonale Finanzierungsmodelle müssten erarbeitet, politische Überzeugungsarbeit geleistet werden. Das habe sich alles als mühsam erwiesen. Die Umsetzung liegt also erst einmal auf Eis. «Doch», so Derungs, «früher oder später muss das Thema öffentliche Frauenhäuser zum Politikum werden.»
Weltweit finden jedes Jahr zwischen dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen am 25. November und dem Internationalen Menschenrechtstag am 10. Dezember Aktionen gegen Gewalt an Frauen statt. Im Fokus der diesjährigen Kampagne steht die am meisten verbreitete häusliche Gewalt an Frauen.