«Mein Kampf»: Weniger wäre mehr gewesen
Adolf Hitlers Weltanschauung und sein Programm können als hinlänglich erforscht gelten. Braucht die Welt also eine gigantische kommentierte Neuausgabe von Hitlers «Mein Kampf»?
Seit Wochen ist es das beherrschende Thema in den deutschen Feuilletons: die «kritische Edition» von Adolf Hitlers «Mein Kampf», herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München und Berlin. Der Originaltext von 1925/26 umfasst 800 Seiten, die wissenschaftliche Neuausgabe bringt es, mit Einleitung und 3800 Anmerkungen, auf fast 2000 Seiten. Hitlers Text werde auf diese Weise umzingelt, seine Lügen berichtigt und die von ihm verschwiegenen Quellen genannt.
Drei Jahre lang haben HistorikerInnen, aber auch ExpertInnen anderer Fachbereiche am Wälzer gearbeitet, der am 8. Januar als eine Art Jahrhundertwerk präsentiert wurde. Mit ihm werde es gelingen, so die HerausgeberInnen, «Hitler und seine Propaganda nachhaltig zu dekonstruieren und damit der nach wie vor wirksamen Symbolkraft dieses Buchs den Boden zu entziehen».
15 000 Bestellungen
Nur wenige Stimmen erhoben grundlegende Einwände gegen das Projekt, darunter Holocaustüberlebende und ihre Nachkommen. Sie finden es schwer erträglich, dass der Originaltext des grössten Massenmörders aller Zeiten ausgerechnet in Deutschland und von einer seriösen Instanz verbreitet wird. Die meisten KommentatorInnen äusserten sich wohlwollend bis euphorisch. Das öffentliche Interesse scheint ihnen recht zu geben: 4000 Exemplare sollte die Erstauflage betragen, 15 000 Bestellungen gingen ein – nun wird nachgedruckt. Dass Rechtsradikale mit dem Buch «keinen Spass» haben werden, wie IfZ-Direktor Andreas Wirsching glaubt, erscheint plausibel. Dass es die erhofften «volkspädagogischen» Wirkungen hat, darf indes bezweifelt werden. Auch seine wissenschaftliche Bedeutung ist umstritten. Denn dass die autobiografischen Teile der Kampfschrift weithin falsch und lückenhaft sind, war schon in der 1989/90 in Jerusalem und New York erschienenen «Enzyklopädie des Holocaust» und diversen Hitler-Biografien nachzulesen.
Hitlers Weltanschauung und Programm können als hinlänglich erforscht gelten. Wie die zwei zentralen Themen zusammenhängen – die Eroberung von «Lebensraum» und der «arische Lebenskampf» gegen «den Juden» –, wird besonders deutlich in Hitlers «Zweitem Buch» aus dem Jahr 1928, der zu seinen Lebzeiten unveröffentlichten Fortsetzung von «Mein Kampf». Herausgegeben wurde es erstmals 1961, ebenfalls vom Institut für Zeitgeschichte. Dem 180 Seiten umfassenden Originaltext wurden knapp vierzig Seiten einleitende Kommentare der Historiker Hans Rothfels und Gerhard L. Weinberg vorangestellt. Der Wert dieser Veröffentlichung ist allgemein anerkannt. Wissenschaftliche und politische Erkenntnis lässt sich auch ohne Gigantomanie gewinnen.
Was nicht heissen soll, dass die Lektüre von «Mein Kampf» überflüssig wäre. Besonders aufschlussreich ist das von tödlichem Hass diktierte Kapitel über «Volk und Rasse». Auf 52 Seiten geifert Hitler gegen «den Juden» als «Parasiten», «Schmarotzer», «Bazillus», «ewigen Blutegel» und spitzt das zu, was er sich in völkischen und antisemitischen Hetzschriften angelesen hat. Einen Plan für den Völkermord enthält «Mein Kampf» dennoch nicht – auch wenn man eine häufig zitierte Stelle aus dem 15. Kapitel hinzuzieht: Dort fantasiert Hitler über den Einsatz von Giftgas gegen «zwölf- oder fünfzehntausend dieser hebräischen Volksverderber», der den Verlauf des Ersten Weltkriegs zugunsten Deutschlands beeinflusst hätte. Der Historiker Eberhard Jäckel weist in seinem Klassiker «Hitlers Weltanschauung» (1981) darauf hin, dass mit der Umsetzung der «beiden Kernpunkte von Hitlers Programm» – dem Eroberungskrieg gegen die Sowjetunion und der systematischen Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden – gleichzeitig, im Sommer 1941, begonnen wurde.
Andere Historiker – an erster Stelle zu nennen sind Yehuda Bauer und Saul Friedländer – haben die Ideologie analysiert, die dem Völkermord zugrunde liegt: der nazistische «Erlösungsantisemitismus». So schreibt Bauer, entscheidender Träger der Schoah sei eine «enttäuschte, entwurzelte Intelligenzija» gewesen, eine Gruppe von «Lumpenintellektuellen», die nach der deutschen Niederlage 1918 ein «pseudo-messianisches Regime und einen Führer» suchten und fanden. Wie Hitler sahen sie in den Juden den Todfeind der «arischen Rasse» und das Haupthindernis des «germanischen Staates deutscher Nation». Eine in ihrem Wahn doch schlüssige Weltanschauung, die Friedländer treffend als «Erlösungsantisemitismus» bezeichnet – auch aus Bauers Sicht ein «Schlüsselbegriff für das Verständnis nicht nur der Nazi-Ideologie selbst, sondern auch der enormen Anziehungskraft, die sie auf die deutschen Eliten und die Bevölkerung insgesamt ausübte».
Statt dieser Ideologie und ihrem Sog nachzugehen, leisten die IfZ-ForscherInnen mit ihrer Fokussierung auf den «Führer» der alten Sicht von Hitlers dämonischer Macht Vorschub. Nichtsdestotrotz – oder deswegen? – will CDU-Bundesbildungsministerin Johanna Wanka das Buch bundesweit im Schulunterricht eingesetzt sehen.
Dafür ist die detailversessene Neuausgabe nicht zu gebrauchen. Der Historiker Wolfgang Benz hatte schon vor drei Jahren den vom IfZ betriebenen Aufwand infrage gestellt und alternativ Auszüge mit Erläuterungen vorgeschlagen. Um «Hitlers Gedankenwelt zu entlarven», würden «einige Kostproben des Hitlertextes genügen, eingebettet in eine Darstellung der Entstehungs- und Begleitumstände, der ideologischen Absichten des Verfassers und der verhängnisvollen Wirkungen der zur Herrschaft gelangten Ideologie. In gebotener Kürze, notwendiger Prägnanz und Verdichtung wäre damit allen Erfordernissen der politischen Bildung entsprochen.»
Kein Masterplan
Benz räumt auch mit dem verbreiteten Irrtum auf, «Mein Kampf» sei die Blaupause beziehungsweise der Masterplan der NS-Diktatur gewesen. Zu relativieren ist allerdings seine Aussage, das Buch bringe «weder Aufschluss über die Intention zum Judenmord noch zur Realisierung des Holocaust». Hitlers antijüdische Gewaltfantasien von 1925 enthalten den Judenmord zumindest als Möglichkeit. Wer das Buch gelesen hatte, musste spätestens am 30. Januar 1939 erkennen, dass Hitler bereit war, Ernst zu machen mit dem, was er Jahre zuvor geschrieben hatte. An diesem Tag drohte er – vor dem in der Berliner Kroll-Oper versammelten Reichstag – zum ersten Mal öffentlich mit der «Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa» für den Fall eines neuen Weltkriegs. Diese Drohung, die er in den folgenden Jahren mehrmals öffentlich wiederholte, steht in vollem Einklang mit dem – wenn auch noch nebulös formulierten – «Volk und Rasse»-Kapitel von «Mein Kampf».
Wirkung bis in die Lehrpläne
Das Buch, von dem bis 1944 mehr als zwölf Millionen Exemplare verbreitet wurden, sei ja gar nicht gelesen worden, behaupteten viele «Mitläufer» nach 1945. Dass das eine reine Schutzbehauptung war, konnte der Historiker Othmar Plöckinger schon vor zehn Jahren nachweisen: Ab 1930, mit dem zunehmenden Erfolg der NSDAP, sei das Buch in den Zeitungen immer wohlwollender rezensiert und referiert worden – «desto mehr verbreitete sich auch das allgemeine Wissen um die Inhalte des Buches».
Die Rezeptionsgeschichte von «Mein Kampf» fortzuschreiben, wäre verdienstvoll. So gingen «Zitate aus ‹Mein Kampf› oder Gedanken, die den dort geäusserten bis in Einzelheiten entsprachen», in bildungspolitische Richtlinien und Lehrpläne ein, schreibt der Erziehungswissenschaftler Kurt-Ingo Flessau. «Mein Kampf» spielte also auch im Schulunterricht eine Rolle, von der politischen Schulung der Hitlerjugend, des Bundes deutscher Mädel, der NSDAP, der SS und der Wehrmacht gar nicht zu reden. Mit den Ressourcen des Instituts für Zeitgeschichte sollten sich da weitere Erkenntnisse erarbeiten lassen. Sie dürften wertvoller sein als die Anmerkungsflut des jetzt vorgelegten Wälzers.
Christian Hartmann u. a. (Hrsg.): «Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition». Institut für Zeitgeschichte. München und Berlin 2016. 2 Bände. 1966 Seiten. 71 Franken.