Genozidforschung: Vorbedingung Krieg?

Wann wird ein Massenmord zum Völkermord? Die Frage ist Gegenstand einer jungen Disziplin.

Im westsudanesischen Darfur wird gemordet, vergewaltigt, vertrieben. Handelt es sich um Völkermord? Ist die Staatengemeinschaft gefordert, militärisch zu intervenieren? Oder soll die alarmistische Rhetorik der Staatsmänner nur wirtschaftliche und geostrategische Interessen der Grossmächte verschleiern? Und wenn humanitär argumentierenden PolitikerInnen misstraut wird: Kann eine Instanz weiterhelfen, die sich «objektiv» mit kollektiver Gewalt beschäftigt: die Genozidforschung?

Vergleichen mit der Schoah

Ihr Programm ist ehrgeizig: Genozidforschung will nicht nur historische Fälle von Völkermord analysieren, sondern auch Kategorien entwickeln, die Prognosen erlauben. Vor allem ein Einwand wird immer wieder gegen die Genozidforschung erhoben: Sie stelle die Einzigartigkeit der Schoah, des Völkermordes an den europäischen Jüdinnen und Juden, in Frage. Doch Vergleichen muss nicht zwangsläufig zur Relativierung führen: Vergleichen heisse nicht «gleichsetzen», wie der Historiker Imanuel Geiss sagt, oder gar «moralisierend-apologetisch aufrechnen», sondern «Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten».

Das gilt auch für den Vergleich der Schoah mit anderen Genoziden. Den entscheidenden Unterschied sieht Yehuda Bauer, Berater und ehemaliger Direktor des Internationalen Forschungsinstituts für Holocaust-Studien am Yad Vashem (Jerusalem), darin, dass der «Erlösungsantisemitismus» der Nazis, der zu einer «präzedenzlosen Form des Völkermords» führte, auf einer völlig irrationalen Ideologie aufbaute. Dem Völkermord an den ArmenierInnen zum Beispiel lagen dagegen pragmatische, «politische und chauvinistische Motive zugrunde», er hatte eine «sachliche Basis».

In der politischen Debatte neigen PolitikerInnen wie nichtstaatliche AkteurInnen mitunter zum inflationären Gebrauch der Begriffe Genozid oder Völkermord, etwa wenn sie Rauschgifthandel, Geburtenkontrolle oder die Integration von Afroamerikanern in genozidalen Kategorien beschreiben. Solche Übertreibungen finden sich auch in der professionellen Genozidforschung: Auch hier ist Genozid nicht eindeutig definiert. Geprägt wurde der englische Begriff «genocide» durch Raphael Lemkin, einen in Polen geborenen und 1939 in die USA geflohenen jüdischen Rechtsanwalt. In seinem Buch «Axis Rule in Occupied Europe» (1944) schreibt Lemkin, Genozid bezeichne einen «koordinierten Plan verschiedener Handlungen», die auf die Vernichtung einer nationalen Gruppe als solcher abziele. Zu diesem Plan gehörten «Desintegration der politischen und sozialen Institutionen, Kultur, Sprache, nationaler Gefühle, Religion und der wirtschaftlichen Existenz nationaler Gruppen; Zerstörung der persönlichen Sicherheit, Freiheit, Gesundheit, Würde und des Lebens der Individuen, die solchen Gruppen angehören.» Entscheidend ist bei Lemkin wie auch in der 1948 festgelegten Uno-Konvention über Genozid die Vernichtungsabsicht der Völkermörder. Diese ist allerdings in der Praxis nur selten eindeutig nachweisbar. Am ehesten gelingt das in der historischen Rückschau.

Dass historische Genozide politisch kontrovers sind, hat mit möglichen Entschädigungsforderungen von Nachkommen der Opfer zu tun. So erklärt sich etwa der Eiertanz der deutschen Bundesregierung und des Bundestages bezüglich des Völkermordes der deutschen Kolonialherren an den südwestafrikanischen Herero und Nama in den Jahren ab 1904. Auch die Leugnung des Genozids an den ArmenierInnen (1915) durch die Türkei soll Entschädigungsansprüche abwehren, sie dient darüber hinaus aber auch «höheren» Zielen: Der Genozid soll aus dem kollektiven Gedächtnis der modernen Türkei verbannt werden; ihn anzuerkennen, hiesse aus Sicht der heute staatstragenden Kräfte, die Grundlagen des Staates in Frage zu stellen.

Genozid und Nationalismus

Auch jüngere Fälle von Massenmord und Vertreibung sind politisch umstritten. Dass 1994 in Ruanda ein Genozid von Hutu-Milizen an der Minderheit der Tutsi stattgefunden hat, ist zwar allgemein anerkannt; unterschiedlich bewertet wird jedoch die Rolle französischer und belgischer Truppen und der Uno. Andere Fälle sind weniger eindeutig, etwa die Ermordung von 7000 BosniakInnen bei Srebrenica und Zepa im Juli 1995. Nach einem Urteil des Uno-Tribunals in Den Haag stellt das Massaker «eindeutig» Völkermord dar.

Die Genozidforschung widmet sich auch der Frage nach den Voraussetzungen, unter denen Völkermord möglich oder wahrscheinlich wird. So untersucht der emeritierte Soziologieprofessor der Hebräischen Universität Jerusalem, Shmuel N. Eisenstadt, die «destruktiven Potenziale in der Konstitution von Kollektiven». Diese Potenziale zeigten sich in der Moderne in den Diskursen über Nationalismus und Ethnizität. Das Ideal «kulturpolitischer Homogenität der mittels territorialer Grenzen bestimmten Bevölkerung» werde durch «Sozialisationsagenten» wie Schule, Medien oder Militär hergestellt. Eine wichtige Rolle spiele dabei die Vermittlung kollektiver Erinnerungen. Der wichtigste Akteur, der die destruktiven Kräfte kollektiver Identitäten hervortreten lasse, sei der moderne Nationalstaat.

Weniger abstrakt als Eisenstadt nähert sich Micha Brumlik, Direktor des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt, einer Theorie des Völkermords. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Brumlik dem Zusammenwirken von Krieg, Rassismus und Nationalismus. In Anlehnung an den britischen Politologen Martin Shaw verweist er auf die enge Verwandtschaft von Krieg und Genozid: «Es ist der systematisch degenerierte Krieg, der in den Genozid mündet.» Shaws These, dass totalitäre Regierungen unter Bedingungen äusseren Friedens nicht auf die Idee kämen, im Staatsinnern einen Genozid zu begehen, habe, wenn sie denn zutreffe, erhebliche Konsequenzen für den Diskurs um humanitär begründete Militärinterventionen, sagt Brumlik: «Das vermeintlich letzte Mittel gegen genozidale Regime, der Krieg, die bewaffnete Intervention, wäre in Wahrheit in aller Regel erst der Auslöser von Genoziden.»

Von zentraler Bedeutung sind für Brumlik moderne Ideologien, vor allem Rassismus und Nationalismus. Schon das Konzept der Nation begründet «ein neues Muster von Inklusion und Exklusion», von Einschliessung und Ausgrenzung, das, verschmolzen mit der «Rasseidee», zum Genozid führen kann. So hatten die jungtürkischen Urheber des Armeniermordes nicht nur vermeintliche Sicherheitsinteressen im Auge, sie waren auch von der «Höherwertigkeit der türkischen Rasse» überzeugt. Den Krieg der Roten Khmer gegen die eigene Bevölkerung sieht Brumlik als exemplarisch für die drohenden Genozide des 21. Jahrhunderts, weil hier sozialutopische, nationalistische und rassistische Motive zusammengeflossen seien.

Während über diese pessimistische Perspektive noch zu diskutieren wäre, ist Brumliks Forderung zuzustimmen, weniger die Bestrafung von Völkermord zu diskutieren, als «an die Entwicklung einer Systematik der Genozidverhütung zu denken» – auch wenn das Versprechen, Genozidforschung könne Frühwarnsysteme bereitstellen und damit zur Genozidverhinderung beitragen, bis auf weiteres nicht einlösbar erscheint.

Genozidforschung in Zürich und Bochum

Im deutschsprachigen Raum widmen sich vor allem zwei Einrichtungen der vergleichenden Genozidforschung: Die Ansätze der Arbeitsgruppe für Genozidforschung in Zürich sind in dem soeben erschienenen Buch «Enteignet – Vertrieben – Ermordet. Beiträge zur Genozidforschung» dokumentiert, das Dominik J. Schaller, Rupen Boyadjian, Vivianne Berg und Hanno Scholtz herausgegeben haben (Chronos Verlag. Zürich 2004. 500 Seiten. 68 Franken). «Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah» (Chronos Verlag, 2002), ebenfalls von Schaller und von Hans-Lukas Kieser herausgegeben, gilt mittlerweile als Standardwerk.

Das Bochumer Institut für Diaspora- und Genozidforschung wurde 1994 gegründet. Sein Direktor Mihran Dabag ist zugleich Mitherausgeber der «Zeitschrift für Genozidforschung», die seit 1999 zweimal jährlich erscheint. Sie kombiniert Fallstudien mit Überlegungen zu Strukturen und Folgen kollektiver Gewalt.

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