Saudisch-iranischer Konflikt: Exekutierte Symbolfigur
Nach der Hinrichtung des schiitischen Klerikers Nimr al-Nimr sind die Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und dem Iran auf einem Tiefpunkt angelangt. Nimrs Geschichte zeigt, wie beide Regimes eine Politik der konfessionellen Spaltung betreiben.
Die Hinrichtung von 47 Dissidenten in Saudi-Arabien hat den Nahen Osten in eine neue Krise gestürzt (siehe WOZ Nr. 1/2016 ). Unter den Exekutierten waren 43 angebliche Mitglieder des Al-Kaida-Ablegers auf der Arabischen Halbinsel, der von 2003 bis 2006 einen bewaffneten Kampf gegen den saudischen Staat geführt hatte. Die meisten der 43 waren schon vor rund zehn Jahren gefangen genommen worden; sie wurden von einem neuen «Terrorismusgericht» zum Tod verurteilt. Es ist nicht ganz klar, wieso sie erst jetzt hingerichtet wurden, aber es sieht danach aus, als ob sich das Königreich als Bollwerk gegen den Terrorismus und als Feind der al-Kaida und des sogenannten Islamischen Staats (IS) präsentieren will. Dies ist ein Anliegen der neuen Führung in Saudi-Arabien um König Salman, seinen Sohn Muhammad (Vizekronprinz und Verteidigungsminister) und Muhammad Ibn Naif (Innenminister und Kronprinz).
Um die Massenexekution in der Bevölkerung zu propagieren, entschied man sich dann wohl dazu, auch vier Schiiten hinzurichten. Denn der antischiitische und antiiranische Dschihad, den al-Kaida und der IS führen, stösst in der saudischen Bevölkerung auf Resonanz, auch wenn viele die gewalttätigen Methoden dieser Organisationen nicht gutheissen. Nimr al-Nimr dagegen, ein Kleriker aus der von vielen Schiiten besiedelten Ostprovinz, wurde seit seiner Verhaftung im Sommer 2012 von den Medien zur eigentlichen Hassfigur der sunnitischen Saudis stilisiert.
Vom Iran vertrieben
Es war nun aber gerade die Exekution Nimrs, die die Medienberichterstattung weltweit dominierte und zu einem Eklat zwischen dem Iran und Saudi-Arabien führte. Nimr wurde 1959 in Awamia, einer von Dattelpalmenhainen umgebenen Kleinstadt in der Ostprovinz, geboren. Schon sein Grossvater führte 1929 eine Revolte gegen die saudischen Machthaber und ihre wahhabitischen Missionare an; sie scheiterte jedoch.
In den siebziger Jahren trat Nimr der Schirasi-Bewegung bei. Die Mitglieder der ursprünglich irakischen Bewegung, benannt nach dem irakisch-iranischen Kleriker Muhammad Mahdi al-Schirasi, mussten vor Saddam Husseins antischiitischer Repression nach Kuwait fliehen und organisierten von dort aus Zellen in den Golfstaaten. Viele junge saudische Schiiten wurden Mitglieder der Bewegung und organisierten 1979 einen teilweise bewaffneten Aufstand in Katif und Awamia, der erst nach zwei Wochen durch die Nationalgarde niedergeschlagen werden konnte.
Danach gingen mehrere Hundert saudische Schiiten ins Exil in den Iran, wo sich die Schirasi-Bewegung nach der Revolution niederliess. Muhammad Mahdi al-Schirasi legte sich aber mit Revolutionsführer Chomeini an. Aus diesem Grund, und auch weil die politischen Aktivitäten der Schirasi-Zellen in Saudi-Arabien und Bahrain Probleme für den Iran mit sich brachten, wurden die Schirasis Mitte der achtziger Jahre ausgewiesen. Sie zogen weiter nach Syrien.
Anfang der neunziger Jahre handelten die saudischen Mitglieder der Schirasi-Bewegung mit dem saudischen König Fahd eine Generalamnestie aus. Nimr allerdings war gegen dieses Abkommen, da es die Stellung der SchiitInnen in Saudi-Arabien nicht verbesserte. So wurde er zur Symbolfigur für alle SchiitInnen, die der saudischen Regierung weiterhin misstrauten. Doch auch Nimr profitierte von der Amnestie und kehrte von Syrien nach Awamia zurück, wo er Freitagprediger in einer kleinen Moschee wurde.
Ein Anlass zum Feiern
Als sich 2011 der Arabische Frühling von Land zu Land ausbreitete, sah Nimr die Chance für die Saudis und die BahrainerInnen gekommen, sich vom Joch ihrer jeweiligen Herrscherfamilien zu befreien. Er rief die Opposition zu Demonstrationen auf. Nachdem in Bahrain Tausende mehrheitlich schiitische DemonstrantInnen auf die Strasse gegangen waren, fingen auch in der saudischen Ostprovinz junge SchiitInnen an zu demonstrieren. Nimr wurde zur eigentlichen Symbolfigur für die Protestbewegung und war der einzige saudisch-schiitische Kleriker, der die Proteste bedingungslos unterstützte. Seine früheren Kollegen in der Schirasi-Bewegung hatten sich mittlerweile zu Unterstützern der Monarchie gewandelt und warnten junge SchiitInnen davor, die Sauddynastie mit radikalen Slogans zu provozieren.
Über Monate blieben die Proteste in der Ostprovinz kleinere wöchentliche Ereignisse, bei denen ein paar Dutzend oder ein paar Hundert mehrheitlich junge Männer, aber auch Frauen in den schiitischen Dörfern und Städten demonstrierten. Im Oktober 2011 eskalierte jedoch die Lage: Nachdem die Polizei einige Aktivisten aus Awamia verhaftet hatte, griff eine Gruppe von Bewohnern die Polizeistation an. Von da an schossen beide Seiten mit scharfer Munition. Bei den Demonstrationen wurden immer wieder Schiiten getötet, in der Folge kam es bei den Begräbnissen zu Massenprotesten. Bei den grössten dieser Demonstrationen nahmen Ende 2011 und Anfang 2012 Zehntausende Menschen teil.
Das saudische Regime verstand es aber, wie auch das Assad-Regime in Syrien, die konfessionelle Spaltung in der Bevölkerung auszunutzen und verschiedene Gruppen gegeneinander auszuspielen. SunnitInnen, die sich mit den SchiitInnen solidarisierten, wurden als iranische AgentInnen gebrandmarkt und mundtot gemacht.
Nimr nahm an mehreren Protesten in Awamia teil. Er war damals wohl nur deshalb nicht verhaftet worden, um eine Eskalation in der Ostprovinz zu vermeiden. Dennoch tauchte er ab. Doch als im Juni 2012 der langjährige Innenminister Naif ibn Abd al-Asis starb, der für die Sicherheit im Land und also auch persönlich für die Repression und die Zustände in den Gefängnissen verantwortlich war, provozierte Nimr das Regime. Er sagte, dies sei ein Anlass zum Feiern. Eine Woche später wurde er festgenommen und dabei angeschossen. Gemäss der Polizei hatten er oder seine Unterstützer, mit denen er in einem Auto gesessen hatte, auf die Polizisten geschossen.
Nimr wurde, wie viele andere politische Gefangenen vor ihm, zum Tod verurteilt. Da aber in Saudi-Arabien schon seit Jahrzehnten kein politischer Gefangener mehr hingerichtet worden war, gingen seine Familie und die schiitischen Notabeln in Saudi-Arabien davon aus, dass die Strafe nicht vollzogen würde.
Hinrichtung mit Folgen
Es kam anders: Nimr und drei junge Schiiten, die im Verdacht standen, die Polizei während der Unruhen seit 2011 angegriffen zu haben, wurden am 2. Januar hingerichtet. Dies löste in der Ostprovinz, in Bahrain, im Irak, in Pakistan und vor allem im Iran heftige Proteste aus. Im iranischen Maschhad griffen DemonstrantInnen das saudische Konsulat an; in Teheran ging die saudische Botschaft in Flammen auf und wurde geplündert. Auf Twitter machte ein Foto die Runde, das einen Iraner zeigt, der mit einem Telefon aus der saudischen Botschaft läuft. Die saudischen Herrscher bezichtigten – wohl zu Recht – die iranische Polizei, dem Ganzen tatenlos zugesehen zu haben. Das iranische Regime trage daher Mitschuld an der Attacke.
Prompt brach die saudische Regierung die diplomatischen Beziehungen zum Iran ab und forderte ihre Alliierten dazu auf, dasselbe zu tun. Bahrain und der Sudan, die ohnehin keine regulären Beziehungen zum Iran mehr unterhielten, folgten den Saudis, andere Länder wie Kuwait, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate zogen ihre Botschafter ab, kündigten die diplomatischen Beziehungen wegen wirtschaftlicher Interessen aber nicht ganz auf.
Die iranische Führung reagierte harsch, und Revolutionsführer Ali Chamenei warnte die Saudis vor einer «göttlichen Strafe» für die Exekution Nimrs. Ironisch ist, dass das iranische Regime inzwischen Anhänger von Sadeg Husseini al-Schirasi, dem Nachfolger von Muhammad Mahdi als Führer der Schirasi-Bewegung, für die Attacke auf die Botschaft verantwortlich macht. Dass Nimr ursprünglich auch ein Schirasi und nicht ein proiranischer Anhänger von Chamenei war, blieb dabei unerwähnt, denn mittlerweile wurde Nimr von iranischen Medien zum Märtyrer erklärt, seine Lebensgeschichte im Propagandakrieg mit den Saudis ausgeschlachtet.
Regionale Eskalation
Die saudisch-iranischen Beziehungen sind seither auf einem Tiefpunkt angelangt. Das letzte Mal hatten die beiden Staaten ihre diplomatischen Beziehungen 1987 abgebrochen, als iranische Pilger auf dem Hadsch von saudischen Polizisten in die Enge getrieben worden waren und Hunderte zu Tode getrampelt wurden. Schon damals stürmten iranische Demonstranten die saudische Botschaft in Teheran. Das führte zu einer Intensivierung des Iran-Irak-Kriegs, und der Iran baute die saudische Hisbollah auf, eine kleine bewaffnete Gruppe, die saudische Diplomaten rund um den Globus ermordete.
Am 24. September 2015 kam es auf dem Hadsch erneut zu einer Massenpanik. Tausende Pilger starben, darunter mehrere Hundert Iraner, unter anderem auch der ehemalige iranische Botschafter in Beirut, der für die Liaison mit der Hisbollah zuständig war. Der Iran brach danach die Beziehungen zwar nicht ab, aber das Verhältnis zwischen den Regionalmächten hatte sich da schon markant verschlechtert.
Nach den Ereignissen der letzten zwei Wochen stehen die Zeichen auf Eskalation. Zuallererst wird das wohl in den Stellvertreterkriegen geschehen: in Syrien und dann im Jemen, wo der Iran bisher eher weniger involviert war, als dies die Golfstaaten behaupten. Dort haben die Saudis und die Emiratis die Bombardierungen Anfang Januar, also zeitgleich mit den Exekutionen, wieder aufgenommen; die Friedensverhandlungen, die im schweizerischen Magglingen weitergehen sollten, wurden verschoben. Es ist aber auch das Risiko einer direkten Konfrontation gestiegen. Denn wenn zwei Staaten keine diplomatischen Beziehungen mehr haben, ist es auch schwieriger, Missverständnisse aus dem Weg zu schaffen.
Schlecht ist dies für die meisten Menschen im Nahen Osten und auch für EuropäerInnen, die möchten, dass weniger Flüchtlinge den gefährlichen Weg nach Europa wagen. Schlecht ist dies auch für einen Grossteil der europäischen und amerikanischen Wirtschaft, die auf eine rasche Öffnung des Iran und eine Entspannung der regionalen Lage gewartet hat. Gut ist dies allerdings für die Rüstungskonzerne, die in den Golfstaaten aktiv sind – insbesondere die US-amerikanischen, die vom Krieg im Jemen enorm profitieren. Das Wettrüsten am Golf wird also weitergehen, mit unabsehbaren Folgen.
Toby Matthiesen ist Islam- und Politikwissenschaftler an der Universität Oxford. Er ist Spezialist für Saudi-Arabien und die Golfstaaten. Zu diesem Thema hat er auch zwei Bücher publiziert. www.tobymatthiesen.com