Von oben herab: Irgendwo die Tragik

Nr. 2 –

Stefan Gärtner über Nazis und ihre Entschuldiger

Am Sonntag folgte auf den «Tatort» eines dieser ewigen deutschen Historienstücke, irgendwas mit den Gebrüdern Göring bzw. dem kleinen, judenfreundlichen Bruder des beliebten Reichsjägermeisters; allerdings halte ich derlei Schulfernsehen, in dem Göring d. Ä. nach vierzig Sekunden seinen legendären Satz «Wer Jude ist, bestimme ich!» aufsagen durfte, nur schlecht aus und schaltete lieber in die Mediathek des ZDF, wo die mässige Miniserie «Morgen hör ich auf» meine linde Fernsehsucht recht treffend betitelte.

Wer in der Schweiz was über Göring erfahren will, der braucht nicht fernzusehen, der muss nur die «Weltwoche» lesen. «Das deutsche Verhängnis», überschrieb Roger («Moore») Köppel ein Editorial, in dem er von seinen Weihnachtsferien berichtet, die er mit der Lektüre von «Leonard Mosleys über vierzig Jahre alter Biografie von Hermann Göring» verbracht hat. Sie hat ihm gut gefallen: «Mosley ist natürlich kritisch, aber man hat den Eindruck, dass er am Beispiel Görings auch irgendwo der Tragik nachspürt, von der die Deutschen (…) im letzten Jahrhundert befallen wurden. Göring habe, so Mosley, alles unternommen, um den Zweiten Weltkrieg zu verhindern, dann alles, um ihn zu gewinnen, am Ende aber nichts, um Hitler zu stoppen, obschon er das Verhängnis kommen sah.»

Für den Fall, dass es mein geschätztes Schweizer Publikum nicht weiss: Von «Tragödie» reden deutsche Entschuldiger, wenn ihr herrliches deutsches Volk an Auschwitz keine Schuld haben soll, «von Tragik befallen» schreiben Schweizer Trottel, wenn sie dasselbe nicht ausdrücken können. «Von den Verbrechen seines Regimes wollte er nichts gewusst haben. Görings Schuld, bilanziert Mosley, sei seine moralische Feigheit gewesen, die den intelligenten und einst bewunderten Mann daran gehindert habe, gegen Hitler aufzustehen.» Ja, der Führer! Gegen den war halt schlecht anzukommen, schon gar nicht, wenn man es unter ihm zum zweitmächtigsten Mann des Reiches und schwerreichen Schlossbesitzer gebracht hatte.

Aber wir wollen nicht mokant werden, denn immerhin versucht Mosley, «Göring zu verstehen, ohne ihn zu rechtfertigen. Die für mich erstaunlichste Erkenntnis ist die Vermutung, dass der Zweite Weltkrieg von Hitlers Clique gar nicht bewusst begonnen, sondern gleichsam hasardierend und planlos in Kauf genommen wurde. Nicht nur die Deutschen waren einem Blender auf den Leim gekrochen.»

Es wäre die Frage, ob der Blödsinn, der hier blüht, eminent genug ist, dass es vor Gericht zum mildernden Umstand reicht, zumal «Mein Kampf», worin der Führer keinen Hehl aus seinen Absichten zur Eroberung des «Riesenreichs im Osten» macht, gerade wirklich überall bequackelt wird. Und da steht also der arme Göring plötzlich «an der Spitze eines kriminellen Staats, der Leichenberge, ein verwüstetes Deutschland und einen zerbombten Kontinent hinterliess. Wie ist so etwas möglich? Der Mensch bleibt sich selbst das grösste Rätsel, und niemand kann sicher sein, dass nicht auch er mit den vermeintlich besten Absichten in der grössten Katastrophe endet.»

Da will man, in bester Absicht, die Welt aus Judas Griff erretten, und schon sitzt man auf einem Leichenberg! Der Köppel fasst es nicht, und ich fasse es auch nicht. Der Mensch, das ewige Rätsel, aber das Rätsel, ob es in der allzeit bürgerlichen Schweiz auch Freunde der Bewegung gibt, ist immerhin gelöst. Ich gratuliere.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.