Hermann L. Gremliza (1940–2019): Dialektisch gegen Deutschland
Wer Hermann L. Gremliza liest, wird ein anderer. Am 20. Dezember ist der Publizist, der die Zeitschrift «konkret» fast ein halbes Jahrhundert geleitet und herausgegeben hat, mit 79 Jahren gestorben.
Wann ich Gremliza zu lesen begann, weiss ich fast genau, weil «konkret», die Zeitschrift, der er viereinhalb Jahrzehnte lang vorstand, zu ihrem 60. Geburtstag wissen wollte, wie ich und andere denn links geworden seien: Trotz DDR-Spleen seit meiner Kindheit, samt Ostfernsehen bei Oma am Zonenrand und Grenzbesichtigung mit Opa, so schrieb ich, sei ich ein Spätbekehrter: «Mein Exemplar von Hermann L. Gremlizas ‹Gegen Deutschland› aus dem Jahr 2000 trägt einen ‹Titanic›-Redaktionsstempel, so dass die Rekonstruktion wohl so geht: 1998, mit 25, noch Rot-Grün gewählt, 1999 Eintritt in die Frankfurter Redaktion (‹Die endgültige Teilung Deutschlands – das ist unser Auftrag›), in der Folge das Buch ‹geborgt›. Spätestens seither klug. Oder sagen wir: klüger.»
Ich will nicht sagen, ich hätte Gremlizas Textsammlungen, von «Was Gabriele Henkel alles mit der Hand macht» (1979) bis zu «Haupt- und Nebensätze» (2016), hundertmal gelesen; aber doch oft genug, und jedenfalls häufiger als meine «Fackel»-Auswahlbände, die ich nie ohne Hemmung aus dem Regal ziehe. Denn Karl Kraus’ monumentale Überlegenheit bewundert oder verehrt man, aber doch mit mehr Respekt, als der Liebe zuträglich ist.
Der erklärte Kraus-Schüler Gremliza war da zugänglicher. Zwar heisst es in den «Haupt- und Nebensätzen»: «Sätze, die der Leser ohne Mühe versteht, lohnen das Aufschreiben nicht», aber das ist erstens Quatsch und zweitens kokett. Gremliza versteht man immer, seine Sätze benötigen, falls nicht vertrackter aphoristisch, kein zweites Lesen. Das berührt ihren gedanklichen und stilistischen Glanz nicht im Mindesten. Als Gremliza, erkrankt, seine legendäre «konkret»-Kolumne nicht verfassen konnte und Dietmar Dath einsprang, wars direkt staunenswert, wie Dath, dieser Superkopf, plötzlich nicht mehr klang wie er selbst, sondern wie eingeschüchtert vom Genius Loci.
Ressentiment und Revamche
An der Stelle, wo Gremliza gegen Lüge und Ausbeuterei, vor allem aber gegen Deutschland eine Wahrheit setzte, die sich ihrer unnachahmlichen Formulierung verdankte, will «konkret»-Autor Stefan Ripplinger im Januarheft das Etikett «antideutsch» loswerden, denn was mal antideutsch war, sei heute Querfront.
Gremliza, der aus der SPD austrat, nachdem sich die sozialdemokratischen Abgeordneten im Bundestag bei der Nachricht vom Mauerfall zum Deutschlandlied erhoben hatten, befürwortete die von den USA angeführten Kriege gegen den Irak, um Israel vor Saddams (mit deutschem Gas bestückten) Raketen zu schützen; für ihn hiess «scheiss Deutschland», undialektische Kritik am US-Imperialismus und seiner Weltordnung («Ami go home!») als verkappten Wunsch nach deutscher Revanche zu erkennen: «Wer ja sagt zur Kapitalherrschaft und nein zur Politik der USA, klärt nicht auf, sondern schürt Ressentiment» – ein Ressentiment nämlich, das Ja zum schaffenden (deutschen) und Nein zum raffenden (amerikanisch-jüdischen) Kapital sagen will. Weshalb man bei Axel Hacke lesen kann, dass Facebook sinister, Siemens aber anständig sei, und Hacke lieben Millionen, so wie den Thilo Sarrazin auch.
Dass Israel heute das unbeliebteste Land auf Erden ist, Deutschland das beliebteste, und zwar nicht trotz, sondern wegen Auschwitz, dessen sagenhafte «Aufarbeitung» keinen Nazi je behelligt hätte, ist die Pointe, über die Gremliza nicht lachen wollte; und sicher hatte Franz Josef Degenhardt recht, wenn er sang, dass die anderen Länder auch bloss Vaterländer sind. Die haben aber Auschwitz nicht angerichtet, und sie haben nicht derart davon profitiert, dass ihre späten Bekenntnisse und Verantwortungswinseleien selbst dann noch obszön wären, wären den Opfern, so sie noch lebten, je Entschädigungen gezahlt worden, die mehr gewesen wären als ein Almosen.
Der Finger in der Gaskammertür
Dem deutschen Kapital und seiner Bourgeoisie, und dies ist eine der Wahrheiten, auf denen Gremliza mit allem Recht herumritt, hat das grossdeutsche Menschheitsverbrechen nicht im Geringsten geschadet. Im Gegenteil kann der Moralweltmeister Deutschland, von Hitler verführt und im Krieg schwer geprüft, dem Rivalen USA und dem Volksfeind Israel mit der Leidensmiene dessen kommen, der sich (um ein Bild Gremlizas zu gebrauchen) in der Tür der Gaskammer die Finger eingeklemmt hat.
«Die vorbildliche Bewältigung des Verbrechens, die freilich voraussetzt, dass es begangen wurde» – wer sich auf diese grimme, aber unwiderlegliche Logik einmal einlässt, wird Gremlizas antideutschen Affekt nicht mehr als gleichsam pathologische Marotte abtun können. Deutschland ist, auch wenn seine von Gremliza in guter krausscher Tradition so genannten «Beistrichjungen» das noch so glühend behauptet haben, kein Sommermärchenland, sondern das Land der Mörder und Heuchlerinnen: «Das andere, bessere Deutschland gibt es nicht. Was es gibt, sind die Deutschen und ein paar Menschen, die auch in dieser Gegend wohnen.»
Hermann Ludwig Gremliza, von dem sich, neben Deutsch, ein so nützlicher Terminus wie «demokratischer Faschismus» lernen liess, wohnt nicht mehr in dieser Gegend. Wer ihn liest, wird ein anderer.