Wo steht die Schweiz?: Willkommen in der grossen Dunkelheit
Totale Verwirrung und das heimliche Verlangen nach einem starken, totalitären Staat – so wird die Durchsetzungsinitiative am Ende angenommen. Nicht weil sich die Zustände in diesem Land verschlechtern, sondern auch, weil die Medien den Kompass verloren haben.
55 Prozent? Oder werden es doch eher 60 Prozent sein, die für die Durchsetzungsinitiative stimmen werden? Ich kann mich gerade nicht mit solchen Details aufhalten, weil ich zu sehr damit beschäftigt bin, meine ausländischen FreundInnen beim Einbürgerungsprozess zu beraten. Ganz schnell ganz viele SchweizerInnen machen, so lautet die Devise in diesen trüben Tagen. Grosse Dunkelheit, sei willkommen.
Der Name Ryser ist urschweizerisch, der ganze Friedhof in Dürrenroth im Tal des Rothbachs in den Tiefen des Emmentals ist voll mit den längst verwesten Resten meiner Vorfahren. Die erst kürzlich aus Deutschland zugewanderten Blochers werden mich also nicht so leicht ausser Landes schaffen können. Andererseits: Von der angestrebten Zweiklassenjustiz für AusländerInnen hin zum Ausschalten unliebsamer JournalistInnen ist es bekanntlich nur ein Steinwurf, wie uns die europäische Geschichte lehrt. Aber wer interessiert sich heute noch für die Details der Geschichte?
Kein Aufschrei weit und breit
Dass SVP-Nationalrat Roger Köppel etwa kürzlich im Editorial der «Weltwoche» Hermann Göring bewunderte, der den Befehl zur «Endlösung der Judenfrage» gegeben hatte (was Köppel mit keinem Wort erwähnte), brachte ihm gerade mal einen kritischen Kommentar in der «Aargauer Zeitung» ein. Kein journalistischer Aufschrei weit und breit, die Feuilletonisten René Scheu (NZZ) und Guido Kalberer («Tages-Anzeiger») waren wohl noch damit beschäftigt, sich von der herbstlichen Schweizkritik von Lukas Bärfuss zu erholen, gegen die sie mit voller Verve angeschrieben hatten. Wehe, einer fährt von links in die Parade. Stattdessen zieht im NZZ-Feuilleton der deutsche Soziologe Gunnar Heinsohn, der am Nato-College in Rom lehrt, schon mal eine Linie von Auschwitz nach Köln: «Nach dem Fiasko der grossen Rassereinheit im Dritten Reich darf der Traum multikultureller Vermischung bei Verdacht auf alles Eigene nicht auch noch zuschanden gehen.»
Kaum war die Göring-Bewunderung kundgetan, stand vergangenen Freitag auch schon wieder die jährliche Albisgüetli-Tagung der Zürcher SVP auf dem Programm, und dort betrat einer der mächtigsten Männer in diesem Land das Podium, flankiert von Roger Köppel und anderen mächtigen Männern, Ex-UBS-CEO Oswald Grübel etwa oder Milliardär Walter Frey. Christoph Blocher behauptete, die Schweiz befinde sich auf dem «Weg in die Diktatur». Als deren Wegbereiter meinte der Milliardär alle MitbürgerInnen ausserhalb der SVP und natürlich vor allem ausgerechnet jene, die die Grundsätze einer Demokratie gegen die Durchsetzungsinitiative zu verteidigen versuchen – etwa die Unabhängigkeit der Justiz gegenüber politischer Einflussnahme. Die Diktatoren von heute, so Blocher, würden eben «Anzug und Krawatte tragen oder Handtäschchen und Lippenstift». Blochers rhetorisches Kalkül: Wer am lautesten «Diktatur» brüllt, gerät am wenigsten in den Verdacht, das Land selbst totalitär gestalten zu wollen.
Der «Tages-Anzeiger» kooperierte fürs «Albisgüetli» als willfähriger Medienpartner: Auf der Titelseite wurde für den Abend ein Liveticker angekündigt, und dort tickerte es dann: «Das Menu: Kalbsschulterbraten an Jus serviert mit Kartoffelgratin und Bohnengemüse», «Blocher gibt Vollgas», «Nun folgt der Höhepunkt: Blocher spricht», «Oswald Grübels Meinung zu Blochers Politik», «Blocher ist kommt richtig in Fahrt» (sic!), «Nun dreht Blocher weiter auf», «Nun geht es gegen die Richter». «Blocher zu den Menschenrechten: ‹Wir haben die Menschenrechte geschützt, bevor es all das wie Menschenrechtskonvention gab.›» Roger Köppel könnte seine «Weltwoche» problemlos verkaufen, der klickstarke Gagajournalismus erledigte den Rest. Fast, glücklicherweise nicht ganz. «Tagi»-Redaktor Philipp Loser kommentierte: «Der prägendste Satz aus Blochers Rede ist folgender: ‹Wenn die Minderheit beginnt, Recht über die Mehrheit zu setzen, haben wir die Diktatur.› Ein Satz, den man zweimal lesen muss – wenn er vom starken Mann der stärksten Partei der Schweiz kommt.»
Aus Angst vor einer Justiz, die trotz Durchsetzungsinitiative am Verhältnismässigkeitsprinzip festhalten könnte, schoss sich die «Weltwoche» in der Albisgüetli-Woche schon mal auf das Bundesverwaltungsgericht ein, das «rot» unterwandert sei (was auch der schrägen Mär aufsitzt, an der Härte der Strafen könne man Parteizugehörigkeit ablesen – in der Stadt Zürich etwa gilt ausgerechnet der Schweizer Demokrat Christoph Spiess als besonders gnädig). Damit zeigte der Autor, wie er sich das so vorstellt mit der Justiz: Die totalitäre Politik reduziert RichterInnen zu Automaten.
Rechtsfreie Räume
Futter für die Durchsetzungsinitiative: Die JournalistInnen waren in der letzten Woche und «nach Köln» damit beschäftigt, die Einwanderung aus der «Macho-Kultur» zu beklagen. «Macho-Kultur», das meint den Südländer. Beklagt hat dies in der NZZ der deutsche Journalist Joachim Güntner, der selbst vermutlich ziemlich froh ist, dass man ihm im kulturellen Kollektivsingular nicht die Massenmorde seiner Eltern- und Grosselterngeneration anlastet, quasi «Nazi-Kultur». Willkommenskultur und Realität seien eben nicht kompatibel, schrieb Güntner, und natürlich könne man sexuelle Belästigung am Oktoberfest und beim Karneval nicht mit den Ereignissen in Köln vergleichen, denn die neue Qualität an Köln sei ja vor allem, dass mitten in der Stadt ein rechtsfreier Raum geschaffen worden sei.
Was genau wäre demnach ein sexueller Übergriff am Oktoberfest? Ein Rechtsbruch im Rahmen, weil von Einheimischen begangen? Kein Wort auch von den rechtsfreien Räumen, die sich in Deutschland Neonazis nach der Wende geschaffen hatten und haben, kein Wort dazu, dass vergangene Woche 300 Neonazis organisiert und aus dem ganzen Bundesgebiet nach Leipzig reisten, um dort in einem linken Stadtteil einen ganzen Strassenzug zu verwüsten. Kein Wort davon, dass sich an Pegida-Demonstrationen «besorgte Bürger» mit Neonazis zusammenschliessen, um Ausländer und Journalistinnen anzugreifen. Hier kann es Güntner offenbar nicht Einzelfall genug sein, wie man auch beim rechtsextremen norwegischen Terroristen Anders Breivik umgehend zur Stelle war, um den «politischen Einzeltäter» (Roger Köppel) zu betonen.
Köln wird in den Medien nicht deshalb so gehypt, weil das Ausmass der Gewalt so beispiellos war, sondern weil sich die Vorfälle in Zeiten des rechtspopulistischen Mainstreams wunderbar instrumentalisieren lassen: Seit 45 Jahren macht der Rechtspopulismus Front gegen den Untergang des Abendlands und versucht dabei, vergessen zu machen, wer Europa reich gemacht, wer diese Hochleistungsgesellschaft mitgeschaffen hat oder auch, dass seit dem völkerrechtswidrigen Angriff der USA auf den Irak 2003 dort bisher 171 306 ZivilistInnen ermordet wurden, vornehmlich MuslimInnen. Dass die Leute im Nahen Osten in erster Linie vor Krieg und Terror fliehen, an denen vor allem die westliche Rüstungsindustrie verdient. Oder auch, dass sie ganz konkret vor EuropäerInnen fliehen, nämlich vor jenen bisher über 5000, die vom niederrheinischen Dinslaken in Deutschland oder aus Winterthur oder von Brüssel aus nach Syrien reisten, um dort Einheimische umzubringen, weil sie Ungläubige seien. In Düsseldorf läuft in diesen Tagen ein Prozess gegen eine sogenannte Lohberger Brigade, von den deutschen Ermittlern «IS-Gestapo» genannt: einen Trupp deutscher IS-Kader, der in Syrien folterte und mordete. Ich wäre wirklich sehr froh – und Joachim Güntner von der NZZ teilt womöglich diese Meinung –, wenn die Menschen in Syrien aus kulturellen Gründen keinen Bogen von denen zu mir schlagen würden.
Und ich nehme an, auch Michèle Binswanger, Starautorin des «Tages-Anzeigers», teilt diese Meinung. Binswanger hatte sich kürzlich paternalistisch gefragt, ob denn der Flüchtende, im Kollektivsingular, mit unserer Hochleistungsgesellschaft überhaupt klarkommen könne. Vergangene Woche erklärte sie der Leserschaft des «Tages-Anzeigers», dass sie früher, «neugierig auf andere Kulturen», sogar mal was mit einem Nigerianer hatte und dass der sie doch tatsächlich anständig behandelte, während einige ihrer Freundinnen «von ganz normalen Schweizer Männern attackiert wurden». Trotzdem mache sie sich nun, nach Köln, Sorgen um die eigene Tochter. Und dann: «Wir müssen dringend überlegen, wie wir die Täter angemessen bestrafen und wie wir dafür sorgen können, dass das aufhört.»
Purer Emo-Journalismus, der mit der Realität nichts mehr zu tun hat. Als ob sich JournalistInnen vor allem am hetzerischen anonymen Mob in ihren Kommentarspalten orientierten statt an Fakten – wie wenn die NZZ dieser Tage eine «offene Diskussion (…) über das schreckliche Dilemma» fordert, dass es Antiterrorermittlern zur Not erlaubt sein müsse, «auch mit Folter» Informationen beschaffen zu können. Als hätten wir, wie Binswanger suggeriert, keine Gesetze und keine Mittel, die dafür sorgen, dass zum Beispiel Vergewaltiger dorthin kommen, wo sie hingehören, ins Gefängnis nämlich. Und als sei die Diskussion nicht längst und ausführlich darüber geführt worden, dass es im Rahmen der Menschenrechtskonvention eben keine «gute» oder «böse» Folter gibt, sondern nur Folter, und dass sich der Rechtsstaat eben nicht mit VerbrecherInnen gemeinmachen darf, indem er dieselben Methoden anwendet, sondern dass er dieses Dilemma aushalten muss, was ihn nicht schwach macht, sondern stark.
Demokratie und Diktatur
Offenbar genügen in dieser permanenten Alarmstimmung ein paar Kölner Kriminelle, um Deutschland und im Nachgang auch die Schweiz in Hysterie zu versetzen. Auch jetzt gibt man vor, hart zu sein, stark zu sein, und man suggeriert, eine totale Sicherheit sei möglich. Eine solche ist aber nur in einem totalitären Staat möglich. Und da will die SVP hin: Sie suggeriert, man sei schwach, attackiert aber gleichzeitig mit ihrer aktuellen Initiative einen starken Rechtsstaat und provoziert eine komplette Überforderung der Gerichte. Da können 152 Schweizer RechtsprofessorInnen in einem Aufruf noch so deutlich erklären, dass die Durchsetzungsinitiative die Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns aus den Angeln hebt, dass die Justiz niemals willkürlich sein darf – Quote kriegt, wer behauptet, diese Grundsätze würden den Staat daran hindern, Straftäter Herr zu werden, oder dass Demokratie direkt in die Diktatur führe.
Linke Stimmen haben in diesem Diskurs schon lange nichts mehr zu sagen, der einzige grosse öffentliche Diskurs, der in diesem Land noch stattfindet, besteht aus einem Pingpong der SVP und hyperventilierenden Medien. So konnte kürzlich SVP-Rechtsprofessor Hans-Ueli Vogt in der «Schweiz am Sonntag» wider besseres Wissen behaupten, die Durchsetzungsinitiative gelte nicht für Secondos, obwohl das ja ihr Kern ist, und der Journalist liess ihn widerspruchslos gewähren. Hauptsache Klicks.
Immerhin gibt es noch JournalistInnen wie Fabian Renz vom «Tages-Anzeiger», bisher nicht der auffälligste Schreiber im Umzug. «Die politmediale Fortführung», schreibt Renz über Köln und die Folgen, «verrät eine längst nur allzu lieb gewordene Denke: Begeht ein Ausländer ein Delikt, ist es mehr als ein Delikt, nämlich ein Angriff auf unsere Werte. Es gibt keinen effizienteren Weg in den Rassismus, als permanent von Werten zu sprechen, wo es Gesetze heissen müsste. Gesetze werden durch Individuen gebrochen, und entsprechend ist jeder Gesetzesbruch individuell zu begreifen und zu sanktionieren.» Renz behält die Übersicht. Und das ist schon sehr viel in diesen wirren Tagen.