Fumoir: Öffentlichkeit und Wahn
Ruth Wysseier plädiert für etwas mehr Diskretion.
Überall tröpfelt, rinnt und sprudelt es, nichts ist mehr dicht. Wikileaks, Vatileaks, und nun hat auch der Nachrichtendienst des Bundes ein Leck so gross wie das der Costa Concordia. Zwar ist der Dienst nicht gekentert, aber bloss, weil auch das Bankgeheimnis nicht mehr dicht ist. Der Geheimdienstler, der Berge von Daten entwendete, flog offenbar auf, weil er ein Nummernkonto bei der UBS eröffnen wollte, um den erwarteten Hehlerlohn darauf einzahlen zu können. Ob er das dem Bankbeamten gleich so erklärt hatte oder weshalb jener Verdacht schöpfte, konnte man den Presseberichten nicht entnehmen.
Früher war alles dicht, hinter verschlossenen Türen walteten Behörden still ihres Amtes. Wenn sie sich herabliessen, uns über ihre Beschlüsse zu unterrichten, erfuhren wir diese aus dem Amtsblatt. Darin standen in dürrem Verwaltungsdeutsch abgefasste Verlautbarungen, aufgelockert von Hinweisen auf gestrauchelte BürgerInnen, die Wirtshausverbot erhielten oder Konkurs gegangen waren. Alle, die es saftiger mochten, wussten: «Ein Schuss, ein Schrei, ‹Blick› war dabei.» Das Boulevardblatt bewirtschaftete Sensatiönchen und Emotiönchen und hechelte dem Unappetitlichen hinterher. Dieses Geschäft machte ihm kein anderes Blatt streitig. Irgendwo dazwischen standen die übrigen Blätter, die Nachrichten vermeldeten, einordneten und kommentierten.
Heute ist die Sonntagspresse amtliches Sprachrohr und «Blick» in einem und dominiert das Newsgeschäft. Sie präsentiert Politik als zum Primeur gehypte Serie der Indiskretionen und Sensationen. Die «Sonntagszeitung» und «Der Sonntag» besorgen dies besonders erfolgreich. Wir erfahren jede Woche Dinge, von denen die direkt Beteiligten noch nichts wissen. Letzten Sonntag enthüllte uns «Der Sonntag» die Botschaft, die der Verteidigungsminister dem Bundesrat im Oktober zum Kampfflugzeug Gripen vorlegen wird, die «Sonntagszeitung» trumpfte mit dem Bericht über den Datendieb im Nachrichtendienst auf. Die Woche zuvor standen die Primeurs geradezu Schlange: zum Fall Uni Zürich gegen Christoph Mörgeli, zu den Ökosteuerplänen von Eveline Widmer-Schlumpf sowie zu SVP-Anwalt Hermann Lei berichtete die «Sonntagszeitung» aus vertraulichen Dokumenten, Aussprachepapieren oder Rechtsgutachten.
Natürlich ist das erst mal eine bewundernswerte journalistische Leistung, die Biss, Pfiffigkeit und ein Gespür fürs Nehmen und Geben erfordert. Doch weil bald jeder, der irgendein Papier in die Finger kriegt und damit sein eigenes Süppchen kochen will, einer Redaktion die Tür einrennt, präsentieren sich die Nachrichtenteile wie Wühltische im Ausverkauf, mit einem Wirrwarr von saftigen Emotionen, Blut, Schweiss und Tränen, entlarvten SozialhilfebezügerInnen und gestraucheltem Politpersonal.
Die Lust am Durchleuchten und Entblössen hat alle erfasst: Es drohen Sozialhilfebetrug, Asylbetrug, Steuerbetrug, Krankenkassenbetrug, falsche Doktortitel und Amtsmissbrauch, darum braucht es Speichelproben, Gesundheitsdaten und Gentests von allen, Detektive und den automatischen Bankdatenaustausch. Es muss alles ans Licht, nur wer etwas zu verbergen hat, kann dagegen sein. Zwischendurch punktet der Boulevard im öffentlichen Interesse mit Kates Busen und Harrys Füdli. Und die Kids wissen schon gar nicht mehr, wie man «privat» buchstabiert, sie protokollieren, filmen und posten jede intimste Regung, weil ihnen sonst langweilig ist.
Kennen Sie diesen Traum, in dem man nackt oder nur mit einem Leibchen bekleidet durch belebte Strassen geht? Fasziniert vom Wühltisch, merken wir nicht, dass es gar kein Traum ist.
Ruth Wysseier ist WOZ-Redaktorin und Winzerin und zurzeit an der Traubenlese. Sie hofft, dass wenigstens die Weinfässer alle dicht sind.