Solothurner Filmtage: «Es gibt Schlimmeres im Leben, als zu sterben»

Nr. 4 –

Er fehlt: Peter Liechti (1951–2014). In Solothurn wurden nun die nachgelassenen Fragmente zu seinem letzten Film gezeigt.

«Das Anfangen selbst hat irgendwie aufgehört»: Peter Liechti in einer Szene seines unvollendeten letzten Werks.

Man möchte, dass er nie aufhört, und weiss doch: Nach exakt 51 Minuten, so steht es im Programm, wird der Film zu Ende sein. Es ist dann, als ob er ein zweites Mal gestorben wäre, und diesmal wird nichts mehr kommen von ihm, von Peter Liechti.

Aber jetzt sehen wir ihn noch einmal, wie er allein vor der Kamera aus seinem Tagebuch liest und von seinen «zaghaften Versuchen in Demut und Tapferkeit» berichtet. Wie er versucht, ein Held zu sein, «obwohl ich Helden lächerlich finde». Soll man, kann man überhaupt gegen eine Krankheit kämpfen? Noch dazu in geblümter Spitalwäsche?

Wir sind im Landhaus in Solothurn, diese gefilmte Lesung aus dem Spitaltagebuch ist der erste Teil der nachgelassenen «Dedications». So hätte Liechtis letztes Werk geheissen, wenn der Krebs ihm die Zeit gelassen hätte, es zu vollenden. Als er am 4. April 2014 stirbt, hat er einen Rohschnitt von fünfzehn Minuten, dazu die Lesung, die der Kameramann Peter Guyer drei Monate zuvor in Liechtis Atelier im Appenzell aufgezeichnet hat – und den ganzen Fundus seines privaten Filmarchivs.

Aus dem Zwischenreich

Was Liechtis Partnerin Jolanda Gsponer jetzt davon zugänglich gemacht hat, ist kein Versuch, die hinterlassenen Fragmente notdürftig zu einem Ganzen zusammenzufügen. Sie nennt es, in prosaischer Untertreibung, eine «Offenlegung des Materials». Doch schon die gefilmte Lesung ist mehr als das: nicht eins zu eins, sondern von einem Monitor abgefilmt, wie als mediales Echo. Dazwischen spuken schummrige Super-8-Bilder wie aus einem Zwischenreich, dräuend und von ominöser Schönheit. Und auf der Tonspur lässt Liechtis langjähriger Weggefährte Norbert Möslang die elektronischen Insekten summen.

Herzstück von «Dedications» ist eine Videoinstallation von Yves Netzhammer, der das Rohmaterial seines Künstlerfreunds auf drei Leinwänden arrangiert hat und es so dem Publikum überlässt, die Einzelteile im eigenen Kopf zu montieren. Der dritte Teil ist ein Filmlesebuch auf der Grundlage von Liechtis Tagebuch und Filmstills aus seinem Archiv. Dem Buch beigelegt ist eine DVD mit dem Rohschnitt der ersten Minuten von «Dedications». Hier ist zu erahnen, was Liechti vorschwebte: ein filmischer Gedankenstrom, «flackernd, rauschhaft, prall und verblassend», unterbrochen von Impressionen aus dem Krankenhaus. So steht es in der Drehvorlage, die im Buch abgedruckt ist.

Verglühen im Weltall

Schonungslos gegen sich selbst, stoisch auch in der Selbstironie: So wirkt Liechti in der Lesung. Wie ein weltlicher Mönch, der seine Religion schwinden sieht, also das Leben, die Kunst. Er schimpft auf die Sonne, als sie draussen durch die Wolken bricht: «Wie sie mich langweilt mit ihrer öden Dramatik!» Wettert gegen geschlossene Fenster und jene, die immer gleich über Durchzug klagen (was man auch als Sinnbild für die Schweiz lesen darf). Fragt sich, ob er lieber in Zürich oder in der Ostschweiz sterben möchte, und kommt zum Schluss: «Am liebsten wär mir das Weltall, verglühen in einer explodierenden Raumsonde – ein exklusiver Todeswunsch, ist mir auch etwas peinlich.»

Und wie man ihm so zuhört in seiner hyperreflektierten Verletzlichkeit, wird einem auch wieder bewusst: dass der Filmemacher Liechti, ohne dass er sich aufs Schreiben viel eingebildet hätte, unbedingt auch als Literat gewürdigt gehört. «Es gibt Schlimmeres im Leben, als zu sterben», schreibt er einmal in sein Tagebuch. Ein tröstlicher Satz oder bloss ironischer Trotz? Später tastet sich Liechti zur Gewissheit, dass ihm für etwas Neues die Kraft fehlt: «Ein schleichendes Aufhören hat angefangen; das Anfangen selbst hat irgendwie aufgehört.»

Und dann hat auch das Aufhören aufgehört. Aber dazu haben wir Filme und Bücher: damit wir gegen den Fluch der Endlichkeit immer wieder von vorn anfangen können.

Peter Liechti: «Dedications». Herausgegeben von Jolanda Gsponer. Scheidegger & Spiess. Zürich 2016. 184 Seiten. 39 Franken.