Peter Liechti (1951–2014): Er hat sich gewundert und wir uns mit ihm

Nr. 15 –

Bildmächtig und sprachgewaltig: Mit Peter Liechti hat der Schweizer Film seinen eigenwilligsten Kopf verloren.

Ein Solitär, der den Austausch suchte: Peter Liechti. Foto: Florian Bachmann

«Es gibt Tage, da macht einem die sogenannte Vergänglichkeit zu schaffen. Zum Glück sind aber auch diese Tage nur Teil derselben Vergänglichkeit.»
Peter Liechti

Die Fröhlichkeit hat er gehasst, vor allem wenn sie in Wandersocken durchs Gebirge marschierte. An der Provinz hat er gelitten, aber sie war ihm immer noch reicher als das, was er die «Allerweltsurbanität» der Städte nannte. Das Kulturland Schweiz? Eine risikobefreite Zone, wo sich die besten FilmkünstlerInnen oft freiwillig in die geistige Frühpensionierung verabschieden.

Peter Liechti, dieser unbeirrbare Freigeist des Schweizer Films, lief nie Gefahr, dass ihn dieses Los dereinst selbst ereilen könnte. Er war wohl zu stur dafür, aber vor allem auch: zu offen. Ein weltläufiger Provinzler, der aus der Beschränkung im Kleinen wie beiläufig die Grenzen sprengte. Beim Filmen setze er auf den Zufall statt auf Konzentration, so erklärte er einmal seine Methode. Er sei halt ein Abschweifer, aber das war nicht halb so entschuldigend gemeint, wie es vielleicht klingen mochte. Die Abschweifung war bei ihm immer die erste Etappe auf dem Weg zur Verdichtung.

Seine Filme sind Erkundungsreisen, die gerne bis ans Äusserste gehen, um zum Innersten zu gelangen. Besonders eindringlich ist ihm das in «The Sound of Insects» (2009) gelungen, seinem Tagebuch eines Verschwindens, nach einer Novelle des Japaners Masahiko Shimada. Da geht einer ins Gehölz, gräbt sich förmlich dort ein, um sich freiwillig zu Tode zu hungern. Dabei führt er schonungslos Protokoll darüber, wie ihm das Leben allmählich verdorrt und verfault, bis hinein in die unappetitlichsten Einzelheiten des Verhungerns. Wie sich Liechti hier im Kopf dieses Sterbenden einnistet und dessen inneren Monolog in Bilder übersetzt, die wie aus einem Zwischenreich zu uns herüberflackern – das ist von einer dunklen Pracht, die auch dank des Sounds von Norbert Möslang nie in den Kitsch abzugleiten droht.

Die Leichtigkeit im Ungemütlichen

Vom Verwesen bei lebendigem Leib: Der Film ist eine Zumutung, und das ist für Peter Liechti eine der höchsten Auszeichnungen, die er sich wünschen konnte. Die Simulation von Mitgefühl als Wellnessprogramm fürs Publikum war ihm ein Gräuel. Die ungeheure Leichtigkeit, die seine Filme auch ausstrahlen, hat er nicht erreicht, weil er sie um jeden Preis angestrebt hätte. Den entscheidenden Gradmesser für gute Kunst hat er immer in der Ungemütlichkeit gesehen, und daran hat er sich auch selbst gehalten. «Wo die Ungemütlichkeit eine derartig konsequente Form annimmt, hat sie schon wieder etwas Tröstliches.» Das hat er über «No Country for Old Men» der Gebrüder Coen geschrieben, einen Satz, den man genau so auch über «The Sound of Insects» sagen könnte.

Vor allem aber ist das ein Film, der die sinnlichen Möglichkeiten des Mediums bis zum Letzten ausreizt, als Echokammer für Bilder, Klänge, Worte. Kino als Grenzerfahrung für alle Sinne, bildmächtig und sprachgewaltig, jenseits aller Konventionen: Diese künstlerische Vision hat niemand im Schweizer Film so konsequent und auf so eigensinnige Weise verfolgt wie Peter Liechti. Er hat sich damit mehr als andere auch den Möglichkeiten des Scheiterns ausgesetzt. Und wo andere mit den Jahren ermatten oder sich allmählich in dem einrichten, was sie beherrschen, weil sie wissen, dass es funktioniert, ist er mit dem Alter immer besser, das heisst kühner und souveräner geworden. Das macht einen nur umso trauriger, dass er jetzt weg ist: weil man bei ihm nie wissen konnte, was noch alles von ihm kommen würde.

Ja, er war ein grosser Solitär des Schweizer Films, weil es einen wie ihn nur einmal gibt. Aber «Solitär» heisst nicht, dass er in seiner Arbeit ein künstlerisches Eigenbrötlertum zelebriert hätte. Er hat immer die Nähe, den Austausch, auch die Auseinandersetzung mit anderen KünstlerInnen gesucht, die ihn inspirierten. Zuallererst natürlich mit Roman Signer, seinem Ostschweizer Freund und Kollegen, für den er zum filmenden Komplizen wurde, als er ihn für «Signers Koffer» (1995) bei seinen Sprengübungen begleitete und auch beim Schnarchen in der isländischen Gletscherlandschaft. Es ist einer der wunderlichsten, bezauberndsten und, ja, auch lustigsten Filme, die es im sonst so eitlen Genre der Künstlerporträts je gegeben hat.

Überhaupt hat Liechti, der ausgebildete Zeichenlehrer und filmische Autodidakt, seine wichtigsten Orientierungspunkte nicht im Kino gefunden, sondern in benachbarten Künsten. Natürlich im entfesselten Geist der Improvisation, der nicht nur seine Musikfilme «Kick that Habit» (1989) oder «Hardcore Chambermusic» (2006) mit Koch-Schütz-Studer befeuerte. Dann auch in der heimtückisch harmlosen Prosa eines Robert Walser, mit dem er die Hassliebe zur Provinz ebenso wie den Fussmarsch als künstlerische Methode teilte. Oder aber bei einem Dieter Roth, bei dem er sah, dass Selbsterkundung in der Kunst das schiere Gegenteil von Selbstbespiegelung sein kann. Frei von Arroganz und Selbstgefälligkeit, schonungslos gegen sich und andere, aber ohne jede Wehleidigkeit: Was er an Roth bewunderte, lebte Peter Liechti selber noch konsequenter.

Auf ambulantem Entzug

Liechti war ein Forschungsreisender mit der Kamera, ein Bildersammler, der mit den Formaten spielte, aber äusserst akribisch in der filmischen Befragung seiner selbst. Wie in «Hans im Glück» (2003), seinem Roadmovie von einem, der auszog, das Rauchen aufzugeben. Dreimal ging Liechti dafür zu Fuss von Zürich nach St. Gallen, um seine Sucht zu überwinden, ein Selbstporträt des Künstlers auf ambulantem Entzug. Doch wie er das Rauchen loswird, wird ihm das Denken zum Problem: Kaum höre er auf mit dem Rauchen, denke er völlig ungebremst drauflos, heisst es im Film. Zum Glück für uns, muss man sagen.

Und wie so oft, wenn einer mit seinen Filmen jede Schublade sprengt, behalf man sich auch bei Peter Liechti damit, dass man seine Werke meist als «Essayfilme» ablegte. Das ist ja nicht falsch bei einem, der sich eine ganz eigene Halbwelt zwischen der Fiktion und dem Dokumentarischen erschlossen hat, wo sich die meisten seiner KollegInnen kaum hintrauen. Aber es trieb gelegentlich auch absurde Blüten bei den Schubladisierern von amtlichen und anderen Stellen. So beschied ihm der TV-Sender Arte vor fünf Jahren, dass man «The Sound of Insects» nicht ausstrahlen werde. Der Film sei nicht dokumentarisch genug, so lautete das Verdikt des Kultursenders. Noch im gleichen Jahr gewann Liechti mit «The Sound of Insects» den Europäischen Filmpreis für den besten Dokumentarfilm. Und er freute sich diebisch, dann auch dem Sponsor des Preises danken zu dürfen. Der Sponsor war Arte.

Es war der Auftakt zu einer ganzen Reihe von Ehrungen, die ihn in den letzten Jahren nochmals gehäuft von allen Seiten erreichten. Da war die «Rencontre», die an den diesjährigen Solothurner Filmtagen zu seinen Ehren ausgerichtet wurde. Da waren die Preise, die er mit seinem nun letzten Film, «Vaters Garten» (2013), gewann, darunter der Publikumspreis im Forum der Berlinale oder, zwei Wochen vor seinem Tod, der Schweizer Filmpreis, den er schon nicht mehr persönlich entgegennehmen konnte, so sehr hatte ihn der Krebs im Griff. Die Schweizer Filmakademie ehrte da einen widerspenstigen Kollegen, der sich bis zuletzt hartnäckig geweigert hatte, Mitglied zu werden in einem Gremium, das Trophäen für Kunst verteilt.

Er brachte Bilder zum Denken

Liechti konnte aber nicht nur ein sturer Kopf sein, sondern, wo es um sein künstlerisches Denken ging, auch ein begnadeter Tiefstapler. «Ich lebe nicht nur über meine Verhältnisse, ich denke auch über meine Verhältnisse», schrieb er einmal. Und er fürchte, jederzeit ertappt zu werden dabei: «Demnächst wird man mich zur Rechenschaft ziehen für diese geistige Zechprellerei.» Wie unbegründet diese Angst war, sieht man nicht nur seinen Filmen an, wo er die Bilder zum Denken brachte, ohne dass er Gedachtes bloss bebildert hätte. Man kann es auch nachlesen im Buch «Lauftext», wo Liechti seine Notizen und Tagebücher aus über zwanzig Jahren versammelte.

Und weil er jetzt verstummt ist, der Peter Liechti, möchte man ihn am liebsten unablässig selber reden lassen, im Originalton seine Aphorismen rattern lassen, die ihn auch im Geschriebenen als unbestechlichen, immer wieder überraschenden Beobachter ausweisen: «War mir im Grunde schon immer unverständlich, warum die Menschen ins Wasser scheissen, ausgerechnet ins Wasser!» Oder dann, einer der letzten Einträge im Buch: «Mein Grundgefühl auf diesem Planeten: Ich wundere mich.» Da wird einem auch klar, wie es kommt, dass einem bei Peter Liechtis Filmen immer die Augen aufgegangen sind, dass man bei ihm Dinge sehen konnte, die man so noch nirgends gesehen hat. Weil er sich wundert. Deshalb tun wir es mit ihm.

Er wundert sich: Diesen Blick hat man auch in «Vaters Garten» nochmals gesehen, dem Film, der nun sein Vermächtnis wurde. Und er bewahrte sich diesen Blick hier unter erschwerten Bedingungen: Das eigene Elternhaus ist ja gewöhnlich der Ort, wo einen gar nichts mehr wundert. Was sie denn glaube, wo er, der schwierige Sohn, nach dem Tod dereinst landen werde, fragt Peter Liechti im Film einmal seine Mutter. Doch, sagt sie zögernd zu ihrem Peter, sie bete für ihn, dass auch er ins Paradies komme.

Letzten Freitag ist Peter Liechti in Zürich seiner schweren Krankheit erlegen. Und wir hoffen, dass der fromme Wunsch seiner Mutter nicht wahr geworden ist für ihn. Er würde sich ja im Paradies zu Tode langweilen.

Die Filme von Peter Liechti sind bei «Look Now!» auf DVD erschienen, seine Bücher «Lauftext – ab 1985» und «Klartext» im Vexer-Verlag. Öffentliche Gedenkfeier: Mittwoch, 16. April 2014, 11 Uhr, im Filmpodium Zürich.

Ein «gwundriger» Taxifahrer

Um 1975 habe ich begonnen, mit Super-8-Film zu arbeiten. Acht Jahre später wollte ich mit meinem Material ins Sittertobel und bestellte ein Taxi. Ein «gwundriger» Taxifahrer fuhr vor: Peter Liechti. Er wollte wissen, was ich mit den Sachen anstelle, und erbot sich an, mich zu begleiten, half, die Sachen ins Tal zu tragen, und blieb zwei Stunden. Das war der Beginn unserer Freundschaft.

Anfang der neunziger Jahre wollte er einen Film über mich machen. So kam es zu «Signers Koffer» (1996). Der Titel stammt von ihm, und ich habe meinen künstlerischen Koffer ausgepackt.

In «Hans im Glück» (2003) hat er zwar über das bünzlige St. Gallen ausgerufen – was ich auch verstehe –, aber gleichzeitig wurde seine Liebe zur Landschaft der Ostschweiz sichtbar. Erst in «Vaters Garten» (2013) sah ich, dass in Peter die systematische Seite des Vaters und die sensible, kunstinteressierte der Mutter zusammenfanden. Es ist tragisch, dass er auf dem Höhepunkt seines Schaffens gehen musste.

Von Roman Signer, Künstler

Bestechend unmodisch

Er mochte ernsthafte Menschen, die Humor haben. Er war auf bestechende Art unmodisch, desinteressiert an Trends und Firlefanz. Bei ihm zu Hause war immer schön aufgeräumt, im Büroatelier auch. Kreativität ist bei ihm nicht aus dem Chaos entstanden, und das hat mir gut gefallen, denn alles war voller Kraft und Leben. Er schuf aus der Überlegung, aus der Zeit. Liess reifen. Und überraschte uns ein ums andere Mal. Bis man gemerkt hat: Das ist auch wieder Peter.

Und bis man dann im Lauf der Jahre gemerkt hat: Da ist ein Werk herangewachsen, das seinesgleichen sucht. Wie Stein auf Stein, und am Schluss sieht man ein Bild voller Tiefe, Weisheit, Reife, Schalk, Sarkasmus, Schönheit. Er liebte Helikopter, mochte Krämerseelen überhaupt nicht. Mochte Würste, aber beileibe keine St. Galler Bratwurst, und wenn er gekocht hatte – immer grundehrlich auch das, ohne Chichi –, dann hat er einem auch immer gerne geschöpft.

Von Bea Cuttat, Filmverleih «Look Now!»

Der innere Kompass

Peter Liechti war ein unfassbar begnadeter Filmemacher, ein Freund und für mich manchmal – ganz beiläufig – auch ein Mentor wider Willen. Er war einer der wenigen Menschen, die mir Mut gemacht haben. Nicht weil er mir eine verlässliche Landkarte gereicht hätte, sondern weil er mir vorlebte, dass man sich auf seinen inneren Kompass verlassen kann oder sogar muss.

Er arbeitete exzessiv und kompromisslos. Jeder Film verlangte nach einem neuen System, hatte seine eigenen Regeln, eine unverkennbare Form. Und so fürchtete sich Peter mitunter durchaus vor dem Scheitern. Er schien dann jeweils wund zu liegen mit seinem Film. – Peters Reibung mit der Welt entfachte unvergessliche Feuer. Nun würde ich mich gerade gerne an eines dieser Feuer stellen, um mich zu wärmen.

Von Benny Jaberg, Filmemacher

Der Berg macht blöd

«Der Berg macht blöd»: So war ein Essay von Peter Liechti überschrieben, der 1986 in der WOZ erschien. Im Lead wurde er als «Ein Text für Leute, die Berge hassen» angekündigt. Zeitgleich erschien sein kurzer Super-8-Film «Ein Ausflug ins Gebirge». Ich arbeitete damals seit zwei Wochen für die WOZ und war über die Vehemenz der Reaktionen auf seinen Essay überrascht. Die LeserInnen waren gespalten. Liechti hat schon damals durch seine kompromisslose Art polarisiert, aber nie gelangweilt.

Über die Jahre kam es immer wieder zu Begegnungen: im Xenix bei alten Filmen, an Konzerten mit sperriger Musik, bei gelegentlichen Essen im kleinen Rahmen. «Der Berg macht blöd» ist einer meiner liebsten Texte geblieben. Ich arbeite noch zwei Wochen für die WOZ und hätte die anregenden Gespräche mit Peter gerne weitergeführt.

Von Fredi Bosshard, WOZ-Redaktor

«Viel zu wenige Künstler stürzen ab»

Siehe auch das Gespräch mit Peter Liechti aus der WOZ vom 13. Januar 2011.