Ta-Nehisi Coates: Die rassistische Erfahrung hockt in den Eingeweiden
Das Buch des schwarzen US-Journalisten und Autors Ta-Nehisi Coates hat in den USA endlich die Aufmerksamkeit wieder auf den strukturellen Rassismus gelenkt, der Schwarze existenziell bedroht.
«Pflichtlektüre!», verkündet Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison auf dem Buchumschlag von Ta-Nehisi Coates’ «Zwischen mir und der Welt». Ihr Zeigefinger ist dabei auf ein weisses Publikum gerichtet. In einem Brief an seinen vierzehnjährigen Sohn beschreibt Coates ebenso intim wie hellsichtig den aktuellen Zustand des schwarzen US-Amerika – eines US-Amerika, in dem sechzig Prozent aller jungen schwarzen Männer ohne Highschoolabschluss im Gefängnis landen. Oder schlimmer. «Ich schreibe dir jetzt, denn dies ist das Jahr, in dem du gesehen hast, wie Eric Garner erwürgt wurde, weil er Zigaretten verkaufte», schreibt Coates. «Du hast gesehen, wie Männer in Uniform im Vorbeifahren Tamir Rice ermordeten, einen zwölfjährigen Jungen, den sie ihrem Eid gemäss hätten beschützen sollen. (…) Und spätestens jetzt weisst du, dass die Polizeireviere deines Landes mit der Befugnis ausgestattet sind, deinen Körper zu zerstören.»
Schwarzsein in den USA bedeutet, von Rassismus und Gewalt gezeichnet zu sein. Auch heute noch, im Jahr 2016 und mit einem Schwarzen als Präsidenten. Coates hat die Briefform bewusst gewählt: Als besorgter Vater klärt er seinen Sohn darüber auf, welch existenzieller Kampf diesem noch bevorsteht, doch eigentlich sind seine Worte an jene gerichtet, die dafür verantwortlich sind – jene, «die rettungslos in dem tragischen Irrglauben genährt wurden, weiss zu sein».
Strukturelle Gewalt
«Rasse» ist kein naturgegebenes Merkmal, sondern ein soziales Konstrukt. Errichtet von Weissen, «zum Schutz ihrer exklusiven Macht, unsere Körper zu beherrschen und zu kontrollieren». Coates reiht sich intellektuell in die Tradition der radikalen schwarzen Linken in den USA ein, von W. E. B. Du Bois über Malcolm X, die Black Panthers und Angela Davis bis zu den Critical Race Theorists wie Richard Delgado, Cheryl I. Harris, Lewis R. Gordon oder Charles W. Mills, Philosophen und Juristinnen, die von den akademischen Rändern her den «amerikanischen Traum» dekonstruieren.
Mills etwa hat in zwei bahnbrechenden Werken aufgezeigt, dass die US-Verfassung als «Racial Contract», als «Rassenvertrag» zwischen Weissen aufgesetzt worden ist, um darauf ein «White Supremacy System» zu errichten. Weiss wurde damit zu einer Eigentumskategorie, zu einer Form von Besitz sowohl im materiellen Sinn wie in Bezug auf individuelle Rechte. Und die Gesetzgebung verankerte Rassenzugehörigkeit entsprechend als Mittel zu Ausgrenzung und Ausbeutung. Rassismus schrieb sich so in die Strukturen und Institutionen der US-Gesellschaft ein. Polizei, Gerichte, Schulen, Sozialfürsorge und Arbeitsmarkt funktionieren gemäss ihrer inhärenten Logik und Dynamik zum systematischen Nachteil von Schwarzen – selbst wenn weder der Polizist noch die Lehrerin die Absicht hat, zu diskriminieren.
Philosophen wie Mills oder Gordon bezeichnen diesen institutionellen Rassismus als strukturelle Gewalt, die für Schwarze einer existenziellen Bedrohung gleichkommt. Genau davon handelt auch Ta-Nehisi Coates’ Brief an seinen Sohn. Nur dass er diese existenzielle Bedrohung ganz auf den Körper zurückbindet. Für ihn ist Rassismus eine Erfahrung, die tief in den Eingeweiden steckt und «das Hirn erschüttert, die Atemwege blockiert, Muskeln zerreisst, Organe entfernt, Knochen bricht, Zähne zerschlägt. (…) Du musst dir immer bewusst machen, dass die Soziologie, die Geschichte, die Wirtschaft, die Tabellen und Statistiken, die Regressionen allesamt mit Wucht auf deinem Körper landen.»
Erschütternde Ausweglosigkeit
«Between the World and Me», wie der Originaltitel des Buchs lautet, steht sinnbildlich dafür, ist er doch einem Gedicht von Richard Wright entlehnt, das einen Lynchmord aus der Perspektive eines Gelynchten beschreibt. Auch mit seiner Briefform greift Coates auf ein Schlüsselwerk der schwarzen Literatur zurück, «The Fire Next Time» (1963), in dem James Baldwin sich an seinen ebenfalls vierzehnjährigen Neffen wendet, eigentlich aber die weisse Bevölkerung vor der brodelnden Wut in den schwarzen Ghettos der US-Grossstädte warnt – eine Wut, die sich aus der täglich erfahrenen Polizeibrutalität nährt und sich nur Monate später in landesweiten Ghettorevolten Bahn brechen sollte. Liest man Baldwin heute wieder, sind die Parallelen so augenfällig, dass man Ta-Nehisi Coates’ Buch auch als aktualisierte Neuauflage bezeichnen könnte.
Coates erzählt darin über weite Strecken von seinem eigenen Erwachsenwerden, von persönlichen Erfahrungen, die geprägt sind von Gewalt und einer eigentümlichen, abgründigen Angst als ständige Begleiterin. Eine Angst, die er überall im Ghetto spürt, sogar bei den flamboyanten Drogendealern und Zuhältern in den Strassen von West Baltimore. Eine Angst, die er bis heute nicht hat überwinden können. Eine Angst, die ihn mit Generationen von Schwarzen durch die Geschichte der USA verbindet und die daher rührt, dass die Verfügungsgewalt über den eigenen Körper fehlt respektive permanent bedroht ist.
Das mag ihm die Anteilnahme von weissen LeserInnen sichern – doch bereitet er ihnen dadurch auch schlaflose Nächte?
Ta-Nehisi Coates’ Waffe ist das Wort, und auch wenn er sie ebenso feinfühlig wie spitz zu führen weiss (was im englischen Original deutlicher wird als in der deutschen Übersetzung), sickert zwischen den Zeilen – anders als bei Baldwin – eine Resignation durch, die erschüttert. Baldwin wie Coates bewunderten Malcolm X dafür, dem weissen US-Amerika den Spiegel vorzuhalten und den «amerikanischen Traum» zu entlarven als das, was er für Schwarze immer war: ein «amerikanischer Albtraum», der auf Plünderung und Gewalt beruht. Doch während Baldwin Mitte der sechziger Jahre angesichts der aufkeimenden Black-Power-Bewegung noch optimistisch gestimmt war, hat Coates nur noch die weissgewaschenen Trümmer davon mitbekommen. In der Schule musste er sich im Black History Month Jahr für Jahr dieselben Filme über die Bürgerrechtsbewegung ansehen, in denen sich Schwarze widerstandslos von Weissen verprügeln liessen. «Warum zeigen sie uns das? Wieso waren nur unsere Helden gewaltlos? Ich spreche nicht von der Ethik der Gewaltlosigkeit, sondern von der Annahme, dass Schwarze sie besonders nötig hätten.»
Coates ist bitter enttäuscht vom ersten schwarzen Präsidenten in der Geschichte der USA. Barack Obama betrachtet auch angesichts der brutalen Morde an Michael Brown, Freddie Gray und anderen Schwarzen in Ferguson, Baltimore und anderswo das US-Polizei- und Justizsystem weiterhin als «color blind» und glaubt, mit einer zusätzlichen Professionalisierung der Polizei liessen sich die Probleme lösen. Er trägt damit aktiv dazu bei, die USA weisszuwaschen, indem jener Erzählstrang der schwarzen Geschichte unterdrückt wird, der seit Generationen dafür plädiert, die Gewalt gegen Schwarze endlich als systemimmanent anzuerkennen – und der deshalb Gewalt als legitimes Mittel zur Selbstverteidigung betrachtet. Ein Erzählstrang, dessen Wurzeln bis in die Sklaverei zurückreichen und den schwarze Intellektuelle, Schriftstellerinnen und Aktivisten seither in vielfältiger Weise weitergeflochten haben.
Die Black Panthers zum Beispiel: Sie begannen 1966 als kleine Gruppe in Oakland in Kalifornien bewaffnet und mit einem Gesetzbuch in der Hand, die Polizei im schwarzen Ghetto zu kontrollieren. Mit schwarzer Lederjacke, schwarzem Beret und über der Kleidung getragenen Waffen stellten sie sich den Polizisten in den Weg und klärten die umstehenden Schwarzen gleichzeitig über ihre Rechte auf. Diese furchtlose Performance, mit der sie den schwarzen Körper als Waffe inszenierten, liess nicht nur in allen grösseren Städten landesweit Black-Panther-Gruppen entstehen, sondern provozierte auch eine gewalttätige Reaktion des Staats, die sich zunehmend jenseits rechtsstaatlicher Schranken bewegte.
Den kollektiven Kampf erneuern
Als Ta-Nehisi Coates 1975 zur Welt kam, waren die Black Panthers nur noch in den Erzählungen und Dokumenten seines Vaters präsent, der als Panther-Captain in Baltimore aktiv gewesen war. Geblieben war die Angst um den permanent von Gewalt bedrohten schwarzen Körper.
Dass Coates keinen Ausweg aus diesem Gefangensein sieht, beschert ihm auch Kritik von schwarzer Seite. Genau dies könne nämlich dazu führen, dass das Buch jene Institutionen stärke, die es eigentlich verurteile, schreibt der Rechtsprofessor Aziz Rana in der jüngsten Ausgabe des Magazins «n+1». Es sei falsch, den Kampf gegen das rassistische System als individuelles ethisches Widerstandsprojekt darzustellen. Stattdessen gelte es, den kollektiven Kampf und das mit ihm verbundene Veränderungspotenzial zu betonen. Auch Rana bezieht sich dabei auf die Black Panthers, die mit ihren sozialen Programmen in den Ghettos die schwarzen Unterschichten organisierten und mit der Revolutionary Peoples Constitutional Convention, die eine breite Koalition von Minderheiten und politischen AktivistInnen aus der Studentenbewegung umfasste, sogar die US-Verfassung neu schreiben wollten.
Rana ruft Schwarze dazu auf, sich mit anderen Minderheiten und insbesondere mit den illegalen ImmigrantInnen zu verbinden und so das Gefühl der Isolation und Machtlosigkeit zu überwinden.
Auch dem Hanser-Verlag scheint die Resignation, die zwischen den Zeilen von «Zwischen mir und der Welt» dräut, nicht geheuer zu sein. Er hat deshalb der deutschen Übersetzung einen früheren Essay von Coates hinzugefügt – eine radikale Abrechnung mit dem System der Sklaverei und seinen Folgen bis in die Gegenwart, die in der Forderung nach Reparationszahlungen gipfelt. Eben: Pflichtlektüre.
Ta-Nehisi Coates: Zwischen mir und der Welt. Hanser Verlag. Berlin 2016. 240 Seiten. 28 Franken