Wichtig zu Wissen: Der Gast

Nr. 6 –

Ruedi Widmer über die Provokateure Herr und Frau Müller, Version 2016

Frau Müller empfing den Gast.

Der Gast war müde, er war seit morgens um fünf auf den Beinen. Das Wirtshaus war wunderbar warm und Frau Müller vielleicht gerade gestresst, sie war kurz angebunden. Frau Müller nahm ihm nicht etwa den Mantel ab oder bot ihm etwas zu trinken an, sondern sie ging in die Küche und fluchte. Dann kam sie mit leeren Händen daher und schnauzte ihn an: «Sie sind im Fall nur Gast hier!»

Die Gastfreundschaft, das musste der Gast schon früh lernen, war in der Schweiz ein eigenartiges Gewächs. Es wuchs zögerlich und an vielen Stellen überhaupt nicht. In diesem Gasthaus wuchs es sogar umgekehrt in den Boden. «Nur Gast», das konnte man nur in der Schweiz sein.

«Sitzen Sie nicht faul rum, Sie Gast. Gehen Sie arbeiten, aber nehmen Sie ja keinem die Arbeitsstelle weg.»

Der Gast spürte, dass er nicht Gast war, und er war ja auch keiner, sondern ein Einheimischer. Er war vor dreissig Jahren hier aufgewachsen. Aber er wirkte wie ein Gast auf Frau Müller, weil es über ihn dies und das hiess und er nicht einer von uns war.

Frau Müller lebte erst seit fünf Jahren da, sie war gebürtige Ungarin und hatte Markus geheiratet, und diese letzten drei Jahre waren eine Tortur gewesen. Sie litt täglich schrecklich unter den Gästen, die ins Gasthaus kamen. Sie beneidete sie. Es war ja so, dass sie, trotz harter Arbeit, selber auch mal Gast gewesen war und nie etwas daran anrüchig fand, nun aber als Schweizerin plötzlich keiner mehr war. Sie musste sogar noch mehr ran, jede Stunde, jeden Tag, weil Markus Müller war ja in der Politik und nie zu Hause, nur wenn er auf den abendlichen Umtrunk mit seinen Parteikollegen ins Gasthaus kam.

Gäste haben sich anzupassen an meine Laune, fand Frau Müller, die nichts so nervte wie Autos, die vor ihr zu langsam fuhren, oder Leute, die Zeit hatten, während sie Stress hatte. Um ein Zeichen gegen diese in Gasthäusern vorherrschende Willkommenskultur zu setzen, hatte sie beschlossen, die Gastfreundschaft umzukehren und Gäste als Eindringlinge zu sehen, die ihr nach dem Wohlbefinden trachteten.

Schliesslich hatte sie sich nicht vergebens eingebürgert. Sie bestand den Aufnahmetest, weil sie alle Busstationen auswendig gelernt hatte. Eine Spanierin hatte ihre Einbürgerung nicht geschafft, weil sie die Endstation des Fünfzehners nicht wusste («Füdlibühl»). Markus Müller wusste nicht mal die Endstationen des Einers und Zweiers, weil er Auto fuhr. Frau Müller verstand sich gar als eine bessere Schweizerin, als Markus Müller ein Schweizer war. Nur zum Spass, aber ein bisschen ernst war es ihr schon.

Herr Müller sagte viel Schlechtes über den Gast. Es missfiel ihm, dass dieser ihn nicht bewunderte. Die besten Gäste schafften es nämlich nach der Entgastung und Verschweizerung in die Partei, der Markus Müller vorstand. In der Partei wurde die Freiheit gepflegt. Frei sein von Verpflichtungen, von Anstandsregeln und vor allem frei sein von Verantwortung. Es wurde das unbeschränkt freie Wort und der unbedingte freie Gedankengang gepflegt.

Man bezeichnete in dieser Denkfreiheit hier lebende ausländische Menschen, die für einen arbeiten und Steuern zahlen, als Gäste, und Markus Müller fand, diese hätten sich anzupassen. An was genau? Dies wiederum war der Freiheit jeder einzelnen Gehirnzelle des jeweils Findenden überlassen.

Ruedi Widmer ist Cartoonist und gastiert jeden Tag in Winterthur.