Barbara Davatz: Gestochen scharfe Endlichkeit

Nr. 10 –

Das Leben als lückenhafter Fotoroman: Die Fotostiftung Schweiz in Winterthur zeigt Serien von Barbara Davatz, die neben ihren Auftragsarbeiten entstanden sind. Herzstück ist «As Time Goes By», eine Porträtreihe, die 32 Jahre umspannt.

Lili und Franciska im Jahr 1982 (links) und Franciska und Lili fünfzehn Jahre später (rechts): Barbara Davatz verrät nur das Nötigste über ihre Porträts. Der Rest bleibt unserer Fantasie überlassen. Fotos: ©  Barbara Davatz

Der US-Fotograf Nicholas Nixon hat in den letzten vierzig Jahren ein mittlerweile berühmtes Langzeitprojekt geschaffen. Seit 1975 fotografiert er seine Ehefrau alljährlich einmal im Kreis ihrer drei Schwestern. Die so entstandene Reihe «The Brown Sisters» dokumentiert das langsame Älterwerden der vier Frauen als edles Daumenkino der Vergänglichkeit. Die Endlichkeit erscheint als langer, ruhiger Fluss, keine unverhofften Lücken, Todesfälle oder andere Absenzen reissen diese 41 Schwarzweissfotografien aus ihrer erhabenen Ruhe.

Nicht so im weitaus aufregenderen, aber auch geheimnisvolleren Langzeitprojekt der Schweizer Fotografin Barbara Davatz. In «As Time Goes By» frohlockt der Zeitgeist, aber es wüten auch die Vergänglichkeit und die harten Schnitte. Die Zeit zieht Schneisen in die Gesichter der Porträtierten und in die Bilderreihen, die jetzt nebst anderen Arbeiten von Davatz in der Fotostiftung Schweiz zu sehen sind.

Das liegt auch an der Auslegeordnung. Im Gegensatz zu Nixon beschränkte sich Davatz nicht auf eine einzige, ihr nahestehende Familie, sondern begann ihre Serie 1982 mit einer Reihe von zwölf jungen Paaren. Man weiss oft nicht einmal, was die beiden Menschen auf dem Bild miteinander verbindet. Sind es LiebhaberInnen, Verwandte, FreundInnen, Geschwister? Davatz gibt uns nur ihre Vornamen bekannt und das Jahr, als fotografiert wurde. Ihre ursprüngliche Faszination galt dem gewagten Look der Porträtierten. Es sind politisch oder künstlerisch Bewegte, die der Fotografin hier forsche Blicke zuwerfen. In ihren auffälligen Kleidern und Frisuren zeigt sich das Äussere als spielerische Ausdrucksform ihres Selbstbewusstseins. Das ganze Leben scheint offen vor ihnen zu liegen.

Wer hat wen verlassen?

Sechs Jahre später, 1988, fragte Davatz die Porträtierten für eine weitere Runde an. Dasselbe geschah 1997 und dann nochmals 2014. Die Regel lautet: Wer schon einmal fotografiert wurde, wird wieder angefragt und kann gegebenenfalls ein neues «Gschpänli» oder Nachwuchs aufs Bild mitbringen. Fotografiert wird immer mit derselben schweren, altmodischen Grossformatkamera und stets in Schwarzweiss vor einem neutralen Studiohintergrund. Die Porträtierten schauen frontal in die Kamera, meistens ohne zu lachen. Diese strenge Einheitlichkeit der fotografischen Situation, des Lichts und des verwendeten Bildmaterials bringt die Veränderungen an und zwischen den Menschen umso deutlicher zum Vorschein. «As Time Goes By» wird zu einem die Jahrzehnte überspannenden Fotoroman mit grossen Lücken, in denen sich unsere Fantasie und natürlich auch unser Voyeurismus fast ungehindert breitmachen können. Wer hat hier wen verlassen? Warum liess sich das eine Paar 2014 nicht mehr fotografieren? Was ist ihnen in den mehrjährigen Porträtpausen alles zugestossen?

Bei einem Rundgang zur Ausstellungseröffnung wurde Barbara Davatz nach ihren fotografischen Vorbildern gefragt. Sie nannte nicht nur berühmte Porträtfotografen wie August Sander, sondern überraschend auch das Düsseldorfer Architekturfotografenpaar Bernd und Hilda Becher. Die Bechers sind berühmt geworden mit streng komponierten, technisch perfekt ausgeführten Bildern von Zechen, anderen Industriebauten und Fachwerkhäusern im Ruhrgebiet, die in den meisten Fällen später abgerissen wurden. Die Fotografie wird so zum überdauernden Zeugnis dessen, was in der Realität schon lange nicht mehr existiert.

Kaskaden aus Pixeln

Auch bei Davatz’ Porträts berühren die vom Projekt angestossenen grossen, letzten Fragen nicht nur Leben, Liebe und Tod, sondern auch die Rolle der Fotografie in diesem rituellen Reigen. Ist sie einfach eine unbestechliche Komplizin der Gegenwart? Oder doch die Feindin des alternden Menschen, der sich auf alten Bildern mit seinem jugendlichen Alter Ego konfrontiert sieht? Für Davatz selber sind die Fotos Zeitkapseln, die einen Moment versiegeln und festhalten. Als sie für die letzte Runde von «As Time Goes By» einmal mehr versuchte, die Leute zum Mitmachen zu bewegen, tat sie das mit den Worten: «Das Projekt wird uns alle überleben.»

Wer die Ausstellung in der Fotostiftung Schweiz wieder verlässt, kann in den «Situations»-Räumen des Fotomuseums Winterthur statt der Vergänglichkeit des Lebens der Vergänglichkeit der Bilder nachspüren. In Nicolas Maigrets Installation «The Pirate Cinema» werden piratierte bewegte Bilder auf ihrer Weltreise von einem Server oder Computer zum nächsten abgefangen und für ein paar Sekunden auf die Leinwand in Winterthur projiziert. Wer vor diesen faszinierenden Kaskaden einstürzender Pixelhaufen sitzt, ist definitiv zurück in unserer Gegenwart der «armen», schlecht aufgelösten Internetbilder, die sich hier wie dünne, löchrige Vorhänge über die Leinwand legen. Diese wohlbekannten instabilen digitalen Bilder fügen sich zwar für den Moment zu einem farbigen Ganzen zusammen. Gleichzeitig laufen sie ständig Gefahr, sich augenblicklich wieder aufzulösen.

Angesichts von «The Pirate Cinema» wird die Erinnerung an die satte physische Präsenz der gestochen scharfen, schwarzweissen Porträts von Barbara Davatz plötzlich von einer verrückten Frage heimgesucht: Träumen diese prekären bunten digitalen Bilder vielleicht manchmal von den strengen, aufwendigen, analogen Fotografien von einst? Oder ist es gar umgekehrt?

«Barbara Davatz – As Time Goes By, 1972–2014» ist bis 16. Mai 2016 in der Fotostiftung Schweiz in Winterthur zu sehen: www.fotostiftung.ch. Das Buch dazu ist in der Edition Patrick Frey erschienen. «The Pirate Cinema» läuft bis 3. April 2016 im Fotomuseum in Winterthur: www.situations.fotomuseum.ch.