Street Photography: Kunstfreiheit oder Recht am Abbild?

Nr. 43 –

Wie ein Jäger durch die Strassen streifen, um Alltag oder Aussergewöhnliches einzufangen: Ein WOZ-Fotograf macht sich Gedanken zu einem der ältesten Genres der Fotografie.

Wenn sich öffentlicher und privater Raum überlagern: Maciej Dakowicz, «Ohne Titel», aus der Serie «Cardiff after Dark» (2005–2011). Foto: Fotomuseum Winterthur

Eine Szene aus der Fantasie: An der Fassade eines Geschäftshauses hängt ein Fensterputzer, unter ihm eilt eine Geschäftsfrau vorbei, ihre Aktentasche hält sie sich als Schutz vor dem Putzwasser über den Kopf. Hinter einem der frisch gereinigten Fenster küssen sich zwei Männer in Massanzügen, Dampf steigt aus einem Schacht. Ein Schnappschuss, mehr nicht. Danach kehrt der Fotograf ins Studio zurück, entwickelt die Bilder, hängt sie auf oder postet sie direkt auf Flickr oder Instagram: Hashtag «streetphotography». Doch läuft das auch in der Wirklichkeit alles so zufällig ab? Und ist das beiläufige Fotografieren unbekannter Menschen im öffentlichen Raum überhaupt noch erlaubt?

Fragen, die auch die Ausstellung «Street. Life. Photography» über die letzten siebzig Jahre Strassenfotografie aufwirft, die aktuell im Fotomuseum Winterthur zu sehen ist. Eine Ordnung nach Themenfeldern – Strassenalltag, Unfälle, öffentlicher Verkehr, städtischer Raum, Linien und Zeichen, Anonymität, Entfremdung – schafft neue Nachbarschaften. Ausserhalb der Ausstellung animiert uns eine Fotorally, selbst die spielerische Seite der Strassenfotografie zu entdecken: Mittels einer App absolviert man fotografische Aufgaben, die sich auf Werke in der Ausstellung beziehen. An der Kasse werden Aufkleber mit Frauennamen verteilt, stellvertretend für all die fehlenden Fotografinnen sowie die namenlos abgebildeten oder nicht gezeigten Frauen.

Die Strasse als Bühne

Die Geschichte der Fotografie ist eng mit jener der Strassenfotografie verknüpft. Auch eine der ersten Fotografien überhaupt, die Pariser Daguerreotypie «Boulevard du Temple» von 1838, kann diesem Genre zugeordnet werden. Die Ausstellung «Street. Life. Photography» geht historisch nicht so weit zurück, sondern behandelt primär unser aktuelles Verständnis von öffentlichem und privatem Raum und unsere Beziehung zur sich wandelnden urbanen Umgebung. Da sind etwa die Bilder aus Taxis in Mumbai von Dougie Wallace: fröhlich, weitwinklig, farbig. Oder Michael Wolfs berühmte Porträts von müden Menschen in Tokios übervollen U-Bahnen. Auch sind mehrere Arbeiten zu sehen, wo die Strasse zur privaten Bühne wird, wie Maciej Dakowiczs Bilder aus dem Nachtleben von Cardiff. Fotografien, in denen die Strasse als politisches Forum genutzt wird, fehlen dafür fast gänzlich.

Oft ist es das Aufeinanderprallen von Gegensätzen – Wohlstand und Armut, Begegnung und Vereinsamung – in einem Bild, das die Strassenfotografie auszeichnet. Manchmal wird sie aber auch inszeniert, wie bei Mohamed Bourouissa, der Strassenszenen nachstellt, oder bei Ahn Jun, die ihre Füsse über den Strassen von New York oder Seoul baumeln lässt.

«Die Strasse ist immer noch die Zone, die zu Recht als Ort angesehen wird, an dem die Dinge geschehen», schreibt der US-Kunsthistoriker Max Kozloff im «World Atlas of Street Photography» von 2014. Doch inwiefern die Bilder auch tatsächlich die Strasse repräsentieren, bleibt zu hinterfragen. Wer kann sich diese Leidenschaft und die dazu nötige Ausrüstung überhaupt leisten? Und warum ist es ein derart männlich geprägtes Feld? Für das Newsportal «Vox» hat die Fotografin Kainaz Amaria 2018 einen aufschlussreichen Text darüber verfasst, warum eine Branche, die zu über achtzig Prozent von Männern dominiert ist, problematisch ist. Wenn der Fotograf in den dunkelsten Gassen fotografiert, ohne die gezeigten Personen um Erlaubnis zu bitten, agiert er als Macho.

Auch im Onlinekurs zur Strassenfotografie, den die Fotoagentur Magnum anbietet, wird das Genre mehrheitlich von Männern erklärt: Bruce Gilden tigert in seinem kakifarbenen Gilet durch den Dschungel von New York und schiesst mit seinem Aufsteckblitz Menschen regelrecht ab. Man lernt: Wo du arbeitest, beeinflusst du, was du siehst und was du überhaupt fotografieren kannst. Es gilt, ein Gefühl für die Strasse zu entwickeln. Augenfällig wird auch, wie viel unbrauchbares Bildmaterial dabei generiert wird.

Es gibt unterschiedliche Strategien. Einige Fotografen erinnern an Cowboys, die für ihren Lebensunterhalt aus der Hüfte schiessen. Andere stellen sich mitten auf der Strasse auf, um Blicke zu provozieren oder – wie Lee Friedlander – mittels Schatten oder Spiegelungen selbst in den Bildern präsent zu sein. Es gibt FotografInnen, die in steter Bewegung sind wie eben ein Bruce Gilden. Oder solche wie Altmeister Henri Cartier-Bresson, die einen fixen Kamerastandort wählen und auf eine gute Szene hoffen wie ein Fischer auf das Anbeissen eines Fischs. Zahlreiche der in Winterthur ausgestellten Arbeiten führen die Vielfalt der gewählten Methoden anschaulich vor Augen.

Letztlich Verhandlungssache

Andere FotografInnen machen sich technische Eigenheiten zunutze: Vivian Maier blickt unauffällig von oben durch den Sucher; der Lomograf fotografiert beiläufig aus Schritthöhe; oder, noch moderner, die Handystickerin, die aus halber Vogelperspektive schiesst. Noch weiter ausgelotet wird das Genre von Doug Rickard, der mit Google Street View arbeitet, oder von Peter Funch, der aus der Montage unzähliger Aufnahmen eine neue Szene erzeugt.

Egal mit welcher Technik sie fotografiert werden: Das europäische Datenschutzgesetz gibt BürgerInnen das Recht, zu entscheiden, was mit ihren Daten geschehen darf. 2013 platzierte der Fotograf Espen Eichhöfer auf einer Stelltafel vor dem Berliner Ausstellungshaus C/O ein Strassenfoto von einer Frau in einem Kleid mit Schlangenmuster. Alle konnten das Bild betrachten, auch ohne die Ausstellung zu betreten. So entdeckte sich auch die abgebildete Frau – und empfand das Bild als Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts. Sie forderte eine Geldsumme und machte dabei das Recht am eigenen Bild geltend. Der Fotograf berief sich auf die Kunstfreiheit.

Vor gut zwei Jahren gab das Bundesverfassungsgericht beiden recht: der Klägerin, weil das Foto durch die Positionierung im öffentlichen Raum deutlich mehr Leute erreichte als in einem Ausstellungsraum; dem Angeklagten, den man im Sinn der Kunstfreiheit zu keiner Honorarzahlung verpflichtete. Womit in Deutschland Strassenfotografie als Kunst gesetzlich anerkannt und die Position der FotografInnen gestärkt wurde.

Doch Eichhöfer treibt die Frage weiter um, etwa als Mitkurator der Ausstellung «Das illegale Bild. Fotografie zwischen Bildverbot und Selbstzensur», die 2020 in Berlin gezeigt wurde. Die «taz» schrieb dazu treffend: «So wird die Debatte über Street Photography schnell zu einer Debatte über Macht und soziale Privilegien.» Die Frau im Schlangenmusterkleid habe sich in den «richtigen» Kreisen bewegt und genügend Geld für Anwaltskosten gehabt. Dagegen würden «der abgerissene Mann mit den Glubschaugen oder der türkische Rentner, die auf anderen Bildern Eichhöfers zu sehen sind», womöglich gar nie erfahren, dass der Fotograf sie als typische Repräsentanten für die Gegend rund um den Bahnhof Zoo ausgestellt hatte.

In der Schweiz stimmte der Nationalrat 2019 dem Lichtbildschutz zu. Dieser stärkt die Position der FotografInnen. Das Recht am eigenen Bild hat aber Vorrang: «Unabhängig von urheberrechtlichen Überlegungen besteht bei Fotos das Recht am eigenen Bild. (…) Aus diesem Grund dürfen Fotos meist nur dann veröffentlicht werden, wenn die darauf Abgebildeten ihr Einverständnis gegeben haben», schreibt der Datenschutzbeauftragte. Und weiter: «Werden Fotos im öffentlichen Raum aufgenommen, ist dies für alle Anwesenden erkennbar und sind die Abgebildeten nur ‹Beiwerk› (…), so ist es ausreichend, wenn das Bild auf Verlangen der fotografierten Personen (…) gelöscht bzw. auf eine Veröffentlichung verzichtet wird. Die betroffenen Personen müssen jedoch nicht zusätzlich angesprochen und informiert werden.»

Das schafft einen Interpretationsspielraum. Oder wie es in der Fotorally-App heisst: «Es ist letztlich immer Verhandlungssache und ein gewagtes Unterfangen, erst recht als Hobby-Fotograf_in.» Neben den rechtlichen Fragen bleibt die Haltung hinter der Kamera entscheidend.

«Street. Life. Photography» ist noch bis am 10. Januar 2021 im Fotomuseum Winterthur zu sehen. Am 7. November 2020 führt der Bildrechtsexperte Kai-Peter Uhlig um 16 Uhr durch die Ausstellung.
Die Aufkleber mit Frauennamen an der Kasse stammen von den Künstlerinnen Ariane Koch und Sarina Scheidegger. www.fotomuseum.ch