Strahlengrenzwerte für Lebensmittel: Blind in der Katastrophe
Fünf Jahre nach der AKW-Katastrophe von Fukushima plant die Schweiz, die Strahlengrenzwerte für Lebensmittel abzuschaffen. Die Kantonslabors, die bislang systematisch radioaktiv belastete Lebensmittel gemessen haben, stehen vor dem Aus.
Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) ist daran, klammheimlich die Strahlengrenzwerte für Lebensmittel verschwinden zu lassen. Ein Desaster sondergleichen zeichnet sich ab – dreissig Jahre nachdem im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl ein Reaktor explodierte.
Damals erst hatte man begriffen, weshalb es überhaupt Strahlengrenzwerte für Lebensmittel braucht. Von einem Tag auf den anderen waren auch hierzulande Gemüse, Gras, Milch oder Kinderspielplätze verseucht. Damals gab es aber noch keine Grenzwerte. Ausser dem Kantonslabor Basel war auch noch überhaupt kein Kantonslabor in der Lage, in Lebensmitteln oder Erdproben radioaktive Substanzen, sogenannte Radionuklide, nachzuweisen.
Verquere Logik
Das Parlament verpflichtete danach den Bundesrat, entsprechende Werte festzusetzen. Seit über zwanzig Jahren gibt es nun eine Liste mit detaillierten Grenzwerten für einzelne Radionuklide. Diese Liste wurde jedoch nicht in der Strahlenschutzverordnung aufgeführt, sondern im Anhang der «Verordnung über Fremd- und Inhaltsstoffe in Lebensmitteln».
Genau diese Liste soll nun ersatzlos gestrichen werden. Dafür verantwortlich ist das erst 2012 neu geschaffene Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV). Früher war das Bundesamt für Gesundheit (BAG) für die Lebensmittel zuständig, dem auch heute noch der Strahlenschutz obliegt. Das BLV hat nun die Lebensmittelverordnung neu gestaltet und will partout keine allgemein gültigen Strahlengrenzwerte mehr drin haben. Es sollen nur noch «im Falle der Gefährdung durch erhöhte Radioaktivität ereignisbezogene Höchstgehalte» festgelegt werden. Das ist verquer und hat zum Beispiel zur Folge, dass für Lebensmittel, die durch Tschernobyl belastet wurden, andere Grenzwerte gelten als für jene, die durch Fukushima verseucht wurden. Und falls es in der Schweiz oder der näheren Umgebung zu einer Freisetzung käme, gäbe es überhaupt keine Grenzwerte mehr. Die müssten nach dem Unfall erst festgelegt werden.
«Ohne Grenzwerte können wir nicht arbeiten», sagt Markus Zehringer, der im Kantonslabor Basel-Stadt die Abteilung Radioaktivität und Raumluft leitet. Ohne Grenzwerte würde sein spezialisiertes Labor vermutlich die Existenzberechtigung verlieren. Das wäre verheerend, denn es gibt nur noch wenige kantonale Labors, die heute in der Lage sind, Radioaktivität in Lebensmitteln zu messen – die meisten haben in den letzten Jahren ihre Strahlenmessgeräte aus Spargründen abgestossen.
Cäsium in Pilzen, Tritium im Rhein
An Zehringers Arbeitsplatz, im Keller des Kantonslabors, stehen noch sieben sogenannte Gammaspektrometer. Mit ihnen ist Zehringer in der Lage, relativ schnell nachzuweisen, ob ein Lebensmittel zum Beispiel Cäsium enthält.
Sowohl in Tschernobyl wie in Fukushima, aber auch durch die früheren Atombombentests wurden grosse Mengen Cäsium freigesetzt. Zehringer findet es noch heute in vielen Proben. Meist sind es nur geringe Mengen, doch Pilze oder Wildfleisch aus Osteuropa können immer noch ungesund hoch belastet sein.
In der bisherigen Verordnung ist für Cäsium ein Toleranzwert von 10 Becquerel pro Kilogramm (Bq/kg) aufgeführt – alles, was weniger belastet ist, kann ohne Auflagen verwendet werden. Der Grenzwert liegt bei 1250 Bq/kg, was stärker kontaminiert ist, darf nicht verkauft werden. Für Babynahrung liegt dieser Wert mit 400 Bq/kg wesentlich tiefer, weil kleine Kinder viel empfindlicher auf Strahlung reagieren als Erwachsene. Bei anderen, noch gefährlicheren Radionukliden wie etwa Strontium gilt ein Toleranzwert von nur 1 Bq/kg, für Plutonium sind es gar nur 0,1 Bq/kg.
Klar definierte Grenzwerte sind für ein Labor existenzielle Leitplanken. Denn ohne diese Werte hat Zehringer keine Möglichkeit, seine Messresultate einzuordnen und zu beurteilen. «Ich kann mich ja schwerlich auf eine Verordnung berufen, die nicht mehr in Kraft ist.» Und ohne Einordnung fehle ihm die Legitimation, überhaupt noch Lebensmittel zu testen. Dann würde sein Labor schnell mal weggespart, davon ist Zehringer überzeugt.
Und das, obwohl er häufig fündig wird. So nimmt sein Labor etwa regelmässig Proben aus dem Rhein. Die Auswertung auf dem Bildschirm zeigt eine rote Kurve mit einigen scharf ansteigenden Spitzen. Zehringer sagt, diese Spitzen kämen zustande, wenn in einem Schweizer AKW Revisionsarbeiten durchgeführt würden und dabei radioaktives Tritium ins Wasser abgelassen werde: «Das ist bewilligt, aber man kann es in Basel klar messen.»
Zehringer hat auch schon in Proben aus einer Kehrichtverbrennungsanlage radioaktive Rückstände gefunden, die manchmal den Grenzwert überschritten. Jemand liess offensichtlich illegal radioaktives Material verbrennen. Es sei aber nicht einfach festzustellen, woher das Material komme, weil täglich Hunderte ihren Abfall ablieferten. Die Proben sind trotzdem wichtig, um einschätzen zu können, wie gravierend das Problem ist – und ob man ernsthaft etwas dagegen unternehmen muss. Zehringer findet auch Uran im Grundwasser. Das Uran kommt über Phosphatdünger ins Wasser, hat also nichts mit einem nuklearen Ereignis zu tun, ist aber trotzdem heikel.
In einem Glasschrank bewahrt Zehringer einige besondere Fundstücke auf, darunter einen grossen bunten Teller und eine orange Küchenkachel. Das Messgerät, das radioaktive Zerfälle misst, beginnt zu knattern. Die orange Farbe auf dem Teller und der Kachel enthält Uranoxid. Für die Leute, die mit dem Teller oder den Kacheln gelebt hätten, sei das nicht wirklich ein Problem gewesen, sagt Zehringer: «Heikel wird es, wenn man solche Kacheln rausschlägt und den Staub einatmet.»
Zehringer fürchtet, dass die ganze Arbeit, die sein Labor geleistet hat, zunichtegemacht wird, nur weil das BLV keine verbindlichen Grenzwerte erlassen will.
Die Basler Regierung unterstützt Zehringer. In der Stellungnahme zur entsprechenden Vernehmlassung schrieb sie im letzten Herbst: «Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb – unabhängig von ereignisorientierten Höchstwerten – für Radionuklide keine allgemein geltenden Höchstwerte (mehr) festgelegt werden. Die in den Erläuterungen ausgeführte Begründung, die EU habe ebenfalls keine solchen Werte, ist in dieser Form irreführend und falsch.»
Eine Position, die auch von den Kantonen Aargau und Zürich geteilt wird.
Bundesamt für Gesundheit kämpft
Support erhält Zehringer zudem vom Bundesamt für Gesundheit. «Wenn es keine Grenzwerte mehr gäbe, wäre das für uns sehr schlecht», sagt Sybille Estier, die beim BAG die Sektion «Überwachung der Umweltradioaktivität» leitet. Sie klingt besorgt und sagt, sie würden wirklich für Grenzwerte kämpfen. Zurzeit versucht das BAG, mit dem BLV eine Lösung zu finden.
Estier hat dem BLV auch schon einen Vorschlag zukommen lassen, wie man das Problem im Rahmen der laufenden Revisionen der Strahlenschutzverordnung und des Lebensmittelrechts elegant lösen könnte, hat aber noch keine Antwort erhalten. Auch sie fürchtet, dass die Kantone zu messen aufhören, wenn es keine Grenzwerte mehr gibt: «Im Ereignisfall ist es dann zu spät: Dann ist das Know-how – das in den Kantonen heute noch vorhanden ist – einfach weg. Es gibt dann auch keine Einrichtungen mehr, die Lebensmittel messen könnten. Diese Infrastruktur lässt sich nicht von heute auf morgen wieder aufbauen, wenn sie einmal weg ist.»
Möglich wäre zum Beispiel, dass man die Grenzwertliste an die Strahlenschutzverordnung anhängt – wo sie ja eigentlich hingehört. Aber auch dazu müsste das BLV Hand bieten.
Das BLV hält sich bedeckt. Auf die detaillierten Fragen der WOZ gab es keine Antwort und liess lediglich verlauten: «Aufgrund der Stellungnahmen und zahlreichen Gespräche werden die Verordnungsentwürfe überarbeitet. Der Bundesrat wird in der zweiten Hälfte 2016 entscheiden, wann die revidierte Lebensmittelgesetzgebung in Kraft tritt.»
Die atomkritischen Organisation haben vom Ganzen nichts mitbekommen, weil die Grenzwerte im Lebensmittelrecht untergebracht waren. Erst Martin Walter vom Schweizer Zweig der ÄrztInnen gegen Atomkrieg (IPPNW/PSR) realisierte es, als er kürzlich die Vernehmlassung zur Strahlenschutzverordnung verfasste. Wenn die Anti-AKW-Bewegung die Grenzwerte noch retten will, muss sie sich schleunigst einmischen.