Interview mit Martin Walter: «Zuerst die Übelkeit ...»

Nr. 11 –

Der Grenchner Arzt Martin Walter arbeitete in verseuchten Gebieten bei Tschernobyl. Er erklärt die gesundheitlichen Folgen der Strahlung.


WOZ: Am Dienstag wurde berichtet, auf dem Gelände des AKWs Fukushima habe man Strahlenwerte von einem Sievert gemessen. Was bedeutet diese Strahlendosis?

Martin Walter: Bei so hoher Strahlung dürfen Menschen nur noch für wenige Minuten auf das Gelände – sonst sterben sie in den nächsten Tagen.

Warum?

Zehn Sievert überlebt man nicht – da stirbt man an akuter Strahlenkrankheit. Wer also zehn Stunden an einem Ort mit annähernd einem Sievert pro Stunde ausharrt, hat diese tödliche Dosis akkumuliert. Das ist das Ende.

Wie sehen denn die Grenzwerte in der Schweiz aus?

Im Normalfall sollte eine Person pro Jahr nicht mehr als ein Millisievert abbekommen. Strahlenexponiertes Personal – also zum Beispiel AKW-Angestellte oder Mediziner – darf höchstens zwanzig Millisievert absorbieren. Selbst beim schlimmsten Störfall, den sich die Schweizer Behörden vorstellen können, dürften Rettungskräfte laut Strahlenschutzgesetz nicht mehr als 250 Millisievert abbekommen.

Wie verläuft eine schwere akute Strahlenkrankheit?

Nach wenigen Stunden treten Übelkeit und Erbrechen auf. Später fallen die Haare aus. Da das Knochenmark geschädigt ist, bricht das Immunsystem zusammen. Alle möglichen Erkrankungen können gleichzeitig auftreten, die Leber und andere Organe versagen. Oft kommen noch Verbrennungen hinzu. Die Menschen sterben in wenigen Tagen – es ist ein qualvoller Tod.

Wenn die Strahlenbelastung nicht ganz so hoch ist, was passiert dann?

Das Knochenmark kann sich wieder erholen. Man muss diese Leute aber in dieser Phase steril unterbringen, sie mit Antibiotika versorgen, damit sie ja keinen Infekt auflesen. Und sie mit frischen Thrombozyten und Leukozyten – also mit Blutplättchen und weissen Blutkörperchen – versorgen. Danach müssen diese Leute mit einem stark erhöhten Risiko leben, an allen möglichen Krebsarten erkranken zu können.

Kann man jemanden, der an einer schweren akuten Strahlenkrankheit leidet, noch durch eine Knochenmarktransplantation retten?

Man kann es versuchen, es ist aber sehr schwierig, weil man nie genau weiss, wie hoch die Dosis war, der die Person ausgesetzt war. Und man muss die Patienten unter höchst sterilen Verhältnissen behandeln – wie nach Knochenmarktransplantationen bei Leukämiekranken. Diese wenigen Spezialeinrichtungen dürften aber in Japan mit Leukämiekranken belegt sein. Wenn jetzt auch nur fünfzig Personen an einer schweren akuten Strahlenkrankheit litten, wo nähme man die Betten her? Woher käme das geeignete Knochenmark?

Nach Tschernobyl hat der US-amerikanische Mediziner Robert Gale Knochenmarktransplantationen bei Feuerwehrleuten vorgenommen. Waren sie erfolgreich?

Man hat damals versucht, dreizehn schwer verstrahlte Menschen auf diese Art zu retten. Nur zwei überlebten. Ob sie heute noch leben, weiss ich allerdings nicht. Die anderen elf starben relativ kurz nach der Transplantation.

An die Bevölkerung werden Jodtabletten abgegeben. Ist die Einnahme sinnvoll?

In den betroffenen Gebieten Japans auf jeden Fall! Allerdings ist es wichtig, das Jod zu schlucken, bevor radioaktives Jod austritt. Sind die Schilddrüsen schon mit sauberem Jod gesättigt, dann nehmen sie kein radioaktives mehr auf. In Tschernobyl hat man die Bevölkerung nicht mit Jod versorgt, deshalb litten nachher vor allem viele Kinder an Schilddrüsenkrebs. Man musste ihnen die Schilddrüsen entfernen, sie müssen ein Leben lang Schilddrüsenhormone schlucken.

Während einer solchen Reaktorkatastrophe kann auch Cäsium oder Strontium in die Umgebung gelangen. Wie gefährlich sind diese Stoffe?

Cäsium verhält sich im Körper wie Kalium – es verweilt etwa drei Monate im Organismus. Wenn man es einatmet oder über Lebensmittel schluckt, ist der Körper zwar eine gewisse Zeit belastet, die Cäsium-Nuklide werden aber wieder ausgeschieden. Das ist bei Strontium anders, es verhält sich wie Kalzium und wird in die Knochen eingebaut. Das heisst, man trägt stets eine Strahlenquelle in sich – und das noch nahe beim sehr strahlenempfindlichen Knochenmark. Wichtig ist zu wissen, dass jede Strahlendosis Krebs auslösen kann – keine auch noch so geringe Strahlenbelastung ist ungefährlich.

Martin Walter war Ende der achtziger Jahre Präsident des Schweizer Zweiges der ÄrztInnen gegen Atomkrieg (IPPNW / PSR). 1991 arbeitete er mehrere Wochen in den von Tschernobyl verseuchten Gebieten in der Ukraine.