Film «Son of Saul»: Im Angesicht des sicheren Todes
Der preisgekrönte Auschwitz-Film «Son of Saul» erhält von Befürwortern und Gegnern eines Bilderverbots viel Lob – zu Recht. Aber zeugt die Begeisterung auch von einer Sehnsucht nach einem abschliessenden, historisch korrekten Spielfilm zum Holocaust?
Wenn der Tod die Regel ist, wird das Leben zur Anomalie. Der italienische Holocaustüberlebende Primo Levi, selbst Autor mehrerer Bücher über seine Erfahrungen in Auschwitz, sagte einmal, die Geschichte der Konzentrationslager sei fast ausschliesslich von denen geschrieben worden, die – wie er – «nicht den tiefsten Punkt des Abgrunds berührt haben». Levis Schluss: «Nicht wir, die Überlebenden, sind die wirklichen Zeugen.»
Vielleicht hat der ungarische Filmemacher Laszlo Nemes an diesen Satz von Primo Levi gedacht, als er sich entschloss, seinen Erstling aus der Perspektive eines Toten zu erzählen. «Son of Saul» ist eine fiktionale, aber mithilfe genau recherchierter Fakten zusammengebaute Geschichte aus dem Innersten der Vernichtungsmaschine von Auschwitz.
In der ersten Szene läuft die Hauptfigur Saul Ausländer (Geza Röhrig) aus dem verschwommenen Hintergrund direkt auf die Kamera zu. Das Bild wird scharf. Wir sehen nun aber kaum je, was Saul sieht, sondern blicken 107 Minuten lang fast pausenlos in sein gelbgraues, ausdrucksloses Gesicht oder auf seinen Hinterkopf, während er wie ein Roboter mit gesenktem Blick und abgehackten Bewegungen seine ungeheuerliche Arbeit verrichtet.
Unscharf an den Rändern
Als Mitglied des jüdischen «Sonderkommandos» geleitet er Menschen in die als Duschen getarnten Gaskammern. Er durchsucht ihre Kleider nach Wertsachen und reinigt nach der Vergasung die Räume von Fäkalien und Blut, derweil die übereinandergestapelten Leichen in die Verbrennungsöfen transportiert werden. Vieles, das an den Rändern des Bildes unscharf angedeutet wird, ergänzen wir im Kopf. Vorwissen und Vorstellungskraft des Publikums werden so zu einem Teil des Films, der – meist indirekt oder vom Hauptdarsteller halb verdeckt – Einblick in das monströs durchorganisierte Chaos der nationalsozialistischen Menschenvernichtungsfabrik gibt.
Dazu kommt eine aufwendige Tonspur, in der sich Wörter und Satzfetzen aus acht Sprachen, Schreie, Pfiffe, Gebell, Wimmern, Schüsse, Schläge, Schritte, Poltern, Räderwerk und viel Undefinierbares zu einer lauten, hektischen Kakofonie vermischen. Erst kurz vor Ende, als Saul mit grösster Wahrscheinlichkeit exekutiert wird, verlässt ihn die nervöse Handkamera, die während des ganzen Films kaum zur Ruhe kam. Doch diese Tonspur und die Entscheidung des Regisseurs, seine Geschichte auf Augenhöhe mit einem Todgeweihten zu erzählen und sich so auch jeder Übersicht, Erklärung oder Täterperspektive zu verweigern, sind bei weitem nicht das einzige Bemerkenswerte an diesem aussergewöhnlich durchdachten Film.
Bei seiner Uraufführung im vergangenen Mai in Cannes gab es für «Son of Saul» höchstes Lob vom französischen Dokumentarfilmer Claude Lanzmann. Das ist deshalb erstaunlich, weil Lanzmann spätestens nach seiner harschen Kritik an Steven Spielbergs «Schindler’s List» (1993) als Vater des sogenannten «Holocaust-Bilderverbots» gilt. Er warf Spielberg vor, die Massenvernichtung als Kulisse zu benutzen und den Holocaust zum Melodram zu verkitschen. Lanzmann ging sogar noch weiter: Erfundene oder gefundene Bilder aus dem KZ, erklärte er, seien grundsätzlich problematisch – «Bilder töten die Vorstellungskraft.» In seinem eigenen Hauptwerk, dem über neunstündigen Dokumentarfilm «Shoah» (1985), verzichtet Lanzmann denn auch auf jede Fiktionalisierung, aber auch auf dokumentarische Archivbilder. «Shoah» besteht aus zahlreichen Interviews mit Überlebenden und ist für viele nach wie vor der einzig statthafte Film zur Judenvernichtung.
«Bilder, trotz allem»
Indem er sich in «Son of Saul» ein Bild von Auschwitz macht, bricht Laszlo Nemes mit Lanzmanns Maxime – trotzdem nannte ihn der Vater des Bilderverbots nach der Premiere in Cannes «mein Sohn». Doch nicht nur Lanzmann war begeistert, sondern auch sein Gegenüber im Bilderstreit, der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman. Er schrieb Nemes einen bewundernden Brief, der unter dem Titel «Sortir du noir» als Buch publiziert wurde. Didi-Huberman hielt damals Lanzmanns Behauptung einer «unmöglichen Repräsentation» den Grundsatz «Bilder, trotz allem» entgegen. Es ging ihm dabei nicht darum, «Schindler’s List» zu verteidigen, sondern auf der grundlegenden Notwendigkeit von Bildern zu beharren: «Um zu wissen, muss man sich ein Bild machen.» Sein Argument entwickelte er anhand von vier Fotografien, die Deportierte im KZ unter direkter Todesgefahr aufgenommen und nach draussen geschmuggelt hatten.
Der schwierige Versuch, eines dieser Fotos herzustellen, ist auch Teil von «Son of Saul». Er ist eine von drei Geschichten des Widerstands, die der Film erzählt. Denn auch die Nazis – und das ist vielleicht ein blinder Fleck von Lanzmanns Argument – hatten ein Bilderverbot: Sie wollten ihre systematische Vernichtung von sechs Millionen Menschen auf keinen Fall dokumentiert wissen. Deshalb wurden die Mitglieder des jüdischen «Sonderkommandos» als «Geheimnisträger» nach ein paar Monaten getötet und durch neue ersetzt.
Der Irrsinn der Menschlichkeit
Die zweite Widerstandsgeschichte ist der ebenfalls historisch verbürgte Aufstand von Angehörigen des «Sonderkommandos», die im Oktober 1944 in Auschwitz versuchten, ein Krematorium in die Luft zu sprengen, um die Massentötungen wenigstens zu verlangsamen. Die dritte Geschichte handelt von Sauls fixer Idee, einen getöteten Jungen, den er für seinen unehelichen Sohn hält, nach jüdischem Ritus zu bestatten. Dieser Junge hat die Gaskammer wie durch ein Wunder überlebt, wird später aber von einem SS-Arzt erstickt. Diese kleine Anomalie im Regelwerk der Massenvernichtung lässt Saul plötzlich aus seiner Erstarrung aufschrecken. Unter unmöglichen Bedingungen will er nun ein Begräbnis mit Rabbi, Kaddisch und Grablegung ermöglichen.
Es ist eine Anwandlung von Menschlichkeit, die im entmenschlichten Irrsinn des KZs allerdings selber wie ein Irrsinn erscheint. «Du hast die Lebenden für die Toten verraten», wirft einer der Aufständischen Saul vor. «Wir sind schon tot», sagt Saul an anderer Stelle.
Immer neue Holocaustbilder
Einzelne KritikerInnen monieren, «Son of Saul» sei obszön und leiste keine historische Einordnung, der ganze Film sei eine grosse künstlerische Eitelkeit und funktioniere teilweise wie ein Thriller. Die moralische Kritik ist schwer nachvollziehbar, der Thrillervergleich schlicht absurd. «Son of Saul» versagt sich jede Sentimentalität. Es gibt in und um diesen Film kein Pathos, keine Tränen, keine Erlösung und keine Helden. Weder benutzt Nemes plakative Bilder oder Symbole, noch lässt sich der Film selbst in einfache Metaphern oder andere Symbole übersetzen.
Regisseur Nemes, sein Hauptdarsteller Röhrig und weitere Beteiligte sind die Enkel von Überlebenden des Holocaust. Schon in wenigen Jahren wird niemand mehr leben, der oder die «dabei war». Gleichzeitig bringt die Unterhaltungsindustrie immer neue Holocaustbilder in Umlauf, die kaum Wahrheitsgehalt haben. Es mag sein, dass mit dem Aussterben der letzten ZeitzeugInnen auch die Sehnsucht nach einem Holocaustfilm wächst, der überzeitlich Bestand und Gültigkeit hat. Aber sogar dieser Aspekt wird in «Son of Saul» kritisch reflektiert: Die Hauptfigur ist ein fingierter Augenzeuge der Vernichtung, und wir können nur indirekt an dem teilhaben, was er sieht.
Einen einzelnen Film, der die ganze Last der Erinnerung in sich trägt, kann es nicht geben, selbst wenn er noch so aufwendig recherchiert und formal bestechend ist. Aber was Laszlo Nemes mit «Son of Saul» schafft, ist eine singuläre Balance von Fiktion, Faktentreue und einer bestürzend glaubwürdigen Wirkung.
Ab 17. März im Kino 2016.
Son of Saul. Regie: Laszlo Nemes. Ungarn 2015