Claude Lanzmann (1925–2018): Von der Unmöglichkeit, die Vernichtung in Bildern darzustellen
Mit «Shoah» hat Claude Lanzmann wie kaum ein anderer die filmische Erinnerungskultur geprägt. Seine Arbeit über die Verfehlungen des Roten Kreuzes in der NS-Zeit bleibt hingegen in der Schweiz leider fast unbekannt.
Am 5. Juli startete sein Film «Les Quatre Sœurs» in den französischen Kinos, am gleichen Tag starb Claude Lanzmann 92-jährig. Bis zu seinem Tod arbeitete er unermüdlich an weiteren Filmprojekten. Er war bis zuletzt Herausgeber der legendären Zeitschrift «Les Temps modernes», ein Posten, den er seit 1986 innehatte. Und er reiste immer noch in der Welt herum, hielt Masterclasses und nahm Auszeichnungen entgegen, etwa den Goldenen Bären für sein Lebenswerk an der Berlinale 2013. Lanzmann verkörperte den Typus des rastlosen französischen Linksintellektuellen, mit einer unbändigen Energie fürs Recherchieren, Schreiben, Drehen, Streiten. Das Bild des draufgängerischen Lebenskünstlers zementierte er in seiner Autobiografie «Le Lièvre de Patagonie» («Der patagonische Hase», 2010). Lanzmanns Ruf als «Frauenheld» müsste allerdings in Zeiten von #MeToo kritisch hinterfragt werden.
1925 in Paris geboren, wuchs Lanzmann in einem assimilierten jüdisch-französischen Milieu auf. Sein weitsichtiger Vater, ein Kämpfer in der Résistance, brachte die Familie Ende der dreissiger Jahre aufs Land, wo sie den Krieg unversehrt überlebte. Claude Lanzmann, damals noch Mittelschüler, war ebenfalls im Widerstand tätig. Nach dem Krieg studierte er an der Sorbonne und unterrichtete anschliessend Philosophie und Literatur in Berlin, wo er sich einerseits mit den Spuren der NS-Zeit und andererseits mit dem Kommunismus auseinandersetzte.
Für «Le Monde» berichtete er aus der neu gegründeten DDR und gewann damit die Aufmerksamkeit von Jean-Paul Sartre. Als freischaffender Journalist verkehrte er bald im Kreis des Pariser Existenzialisten, er schrieb für Sartres «Temps modernes» und drehte Reportagen fürs Fernsehen. Von 1952 bis 1959 lebte er mit Simone de Beauvoir zusammen, die ihre Liebesbeziehung zum siebzehn Jahre jüngeren Lover in ihrem Buch «La Force des choses» (1963) thematisierte. Die intellektuelle Freundschaft zu Sartre und de Beauvoir blieb zeitlebens bestehen.
Die Unmöglichkeit der Bilder
In den fünfziger und sechziger Jahren engagierte sich Lanzmann gegen den Kolonialismus und den Algerienkrieg, unter anderem unter dem Einfluss von Frantz Fanon, den er kurz vor dessen Tod auch persönlich kennenlernte. Gleichzeitig eckte er mit seiner Unterstützung für Israel immer mehr in linken Kreisen an, was ihn schliesslich dazu brachte, seine Position in einem ersten langen Dokumentarfilm zu erklären: «Pourquoi Israël» («Warum Israel», 1973). Für Lanzmann war der Holocaust ein massgebendes Argument für die Notwendigkeit eines jüdischen Staates. Als der Film herauskam, schlug ihm ein israelischer Kollege vor, einen Film über den Holocaust «aus jüdischer Sicht» zu drehen. So kam er unverhofft zu jenem Filmprojekt, das sein Meisterwerk und auch sein Vermächtnis werden sollte.
Lanzmann wurde bald klar, dass sich ein solcher Film um die grundsätzliche Unmöglichkeit drehen müsste, den Tod und die Vernichtung in Bildern darzustellen. Vielmehr müsste der Film zum Erinnerungsstück über eine unwiederbringliche Vergangenheit werden. Zu diesem Zweck suchte er verschiedene ZeitzeugInnen aus, die aus unmittelbarer Nähe über die Tötungsmaschinerie berichten konnten: jüdische KZ-Überlebende, ehemalige Nazis, polnische DorfbewohnerInnen. Lanzmann verzichtete gänzlich auf das übliche Schwarzweissarchivmaterial historischer Dokumentationen, drehte dafür neue Bilder in den ehemaligen Vernichtungslagern Chelmno, Treblinka und Auschwitz-Birkenau sowie im Warschauer Ghetto. Diese oft verstörend schönen Farbfilmbilder der Ruinen setzte er gleichermassen als Kontrapunkt und Ergänzung zu den erschütternden persönlichen Erzählungen ein.
Authentisch und kompromisslos
Die Drehsituationen waren teils von Lanzmann arrangiert, die Gespräche aber wurden möglichst authentisch wiedergegeben. Um die Sprachenvielfalt zu bewältigen, arbeitete Lanzmann gezwungenermassen mit DolmetscherInnen, die laufenden Übersetzungen integrierte er dann in den Film, statt sie auszuklammern und die Aussagen der ZeitzeugInnen zu untertiteln. In den Interviews mit ehemaligen Nazis arbeitete er vorwiegend mit versteckter Kamera, was in diesem besonderen Fall meist als ethisch vertretbar gesehen wird.
Die Arbeit am Film dauerte fast zwölf Jahre, die letzten fünf verbrachte Lanzmann damit, die rund 350 Stunden Filmmaterial auf monumentale neuneinhalb Stunden zu verdichten. Aus dem etwas programmatischen Arbeitstitel «Le Lieu et la Parole» (Der Ort und das Wort) wurde schliesslich schlicht und einfach «Shoah», das hebräische Wort für den Holocaust, das «Katastrophe» und «Auslöschung» bedeutet. Als der Film 1985 herauskam, ging der Ausdruck «Shoah» rasch in die Alltagssprache ein.
In seinem Authentizitätsanspruch und seiner Kompromisslosigkeit bleibt «Shoah» eines der einflussreichsten Werke der Filmgeschichte sowie der Oral History. Lanzmanns Verweigerung der «illustrierenden» Bilder im Dienst einer eher geistigen Vergegenwärtigung der Verbrechen der Vergangenheit machte ihn aber auch zum vehementen Kritiker von Holocaustdramen wie etwa «Schindler’s List» von Steven Spielberg.
Ein Schweizer in Auschwitz
Nach und nach schuf er aus dem Material eine Reihe von weiteren Filmen zu Themen, die die Länge und den Aufbau von «Shoah» gesprengt hätten. In «Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures» («Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr», 2001), «Le Rapport Karski» («Der Karski-Bericht», 2010) und «Le Dernier des injustes» («Der letzte der Ungerechten», 2013) setzte er sich mit Geschichten von Widerstand und Kollaboration auseinander. Am brisantesten bleibt aber der erste Film dieser Reihe: «Un vivant qui passe» («Ein Lebender geht vorbei», 1997), ein ausführliches Gespräch mit Maurice Rossel, dem früheren Delegierten des Internationalen Roten Kreuzes, der 1943 und 1944 in seinen Berichten über Auschwitz und Theresienstadt die eigentlichen Vernichtungslager verharmlost hatte. In diesem verstörenden, aber stets höflich geführten Interview versucht Lanzmann zu verstehen, was den jungen Westschweizer dazu bewogen hatte, diese Orte des Grauens zu besuchen, und wie ihm die wahren Zustände dort entgehen konnten.
Rossel, der sich selber als harmlosen und naiven «kleinen Schweizer» aus der Provinz darstellt, widerspricht sich mehrmals im Gespräch, steht aber nach wie vor zu seiner damaligen Sicht der Dinge und wirft gleichzeitig den jüdischen Häftlingen vor, passiv und opportunistisch beim betrügerischen Spiel der Nazis mitgemacht zu haben. Kettenrauchend hört er schliesslich zu, als Lanzmann ihn mit der Wahrheit über die Konzentrationslager konfrontiert.
«Un vivant qui passe» kam in der Schweiz nie ins Kino, der Film ist aber, wie «Shoah», auf DVD erhältlich. Es bleibt zu hoffen, dass Lanzmanns Tod zu einer Neuentdeckung seines Werks führen wird, damit die Erinnerungsarbeit in den nächsten Generationen weitergeht.