«The Zone of Interest»: Familienidylle eines Massenmörders

Nr. 9 –

Keine Dämonisierung, sondern eine scharfe Nahaufnahme: Jonathan Glazers experimentelle Spielfilmstudie über den Kommandanten von Auschwitz und seine Familie zeigt die Normalität des Abscheulichen.

Filmstill aus «The Zone of Interest»: Garten der Familie Höss vor den Mauern des Konzentrationslager Auschwitz
Im Paradiesgarten der Familie Höss: Das Grauen hinter der Mauer ist in «The Zone of Interest» vor allem auf der Tonspur präsent. Still: Filmcoopi Zürich

Eine kleine Auszeit im Pelzmantel einer ermordeten Jüdin: Mitten am Tag zieht sich Hedwig Höss (Sandra Hüller) ins Schlafzimmer zurück, schliesst die Tür, dreht sich im dunkelbraunen Pelz vor dem Spiegel, probiert den Lippenstift aus, den sie in einer Manteltasche findet.

Es ist eine private und trotzdem irgendwie verklemmte Szene, die harmlos erschiene, wenn man nicht wüsste, woher Hedwig Höss den Mantel hat. Wenn man nicht wüsste, wer der Ehemann der posierenden Frau ist. Rudolf Höss leitete von 1940 bis 1943 das Konzentrationslager Auschwitz.

Höss wurde zu einem Experten für die millionenfache Vernichtung von Menschen und die möglichst spurlose Beseitigung ihrer sterblichen Überreste. Seine Leitung des KZ und Hedwigs Leitung des kinderreichen Haushalts direkt an der Lagermauer sind der ungeheure Stoff von Jonathan Glazers viertem und erneut einzigartigem Spielfilm «The Zone of Interest», zehn Jahre nach dem Science-Fiction-Wunder «Under the Skin».

Bilder ohne Patina

Wenn der britische Regisseur zu seinem neuen Film befragt wird, kommt er immer wieder auf zwei Punkte zu sprechen: Nichts sei so schwierig herzustellen wie das Einfache. Und er habe ein Gefühl der absoluten Gegenwärtigkeit des Gezeigten erzeugen wollen. Beides erreicht er, indem er im akribisch nachgebildeten Haus der Familie Höss zahlreiche Kameras installieren liess, die Unmengen von Bildmaterial aufzeichneten, oft parallel in unterschiedlichen Räumen.

Glazer und seine technische Crew befanden sich derweil in Containern ausserhalb des Hauses – in kritischer Distanz, wie er es nennt. Das Ziel: keine Überhöhung oder Ermächtigung der Akteur:innen. Auf verführerische Kunstgriffe des Kinos wird verzichtet zugunsten einer quasi anthropologischen Studie, die sich ihren Sujets wie einer unbekannten Spezies nähert. Auf dem Set hiess das Arrangement «Big Brother im Nazihaus». Wir kommen diesen Nazis dabei in mancherlei Hinsicht so nahe wie selten in der Geschichte des Kinos.

Der Effekt ist erstaunlich, was auch damit zu tun hat, dass diese vor Ort in Polen gedrehten Filmbilder ohne Patina sind. Dank digitaler Hilfe sieht alles so neu aus, wie es 1943 gewesen sein muss. Auch die virtuosen Schauspieler:innen tragen viel dazu bei, dass «The Zone of Interest» nie in die «bequeme Dämonisierung» (Glazer) kippt, die man aus so vielen Filme über die NS-Zeit kennt und die jeden Horror konsumierbar macht.

Sandra Hüller zeigt hier nochmals ganz andere Register ihres Könnens als kürzlich in «Anatomie d’une chute». Auch das Zusammenspiel mit Christian Friedel als Rudolf Höss ist unheimlich präzis. Die Strategie: keine Psychologisierung, sondern eine suchende Annäherung an die damalige Gegenwärtigkeit dieser Figuren; keine simple moralische Verurteilung, vielmehr ein Herausspielen der Normalität des Abscheulichen.

Wie der ganze Film bewegen sich auch Friedel und Hüller auf einem schmalen Grat. Sie schaffen eine Simulation dessen, was wir etwas hilflos die Banalität des Bösen nennen. Dazu gehört auch, dass Friedels Höss, der gern hoch zu Ross auftritt, kurz den Kopf in den Himmel strecken darf, als sei er einer der arisierten Athleten aus Leni Riefenstahls «Olympia»-Film.

Gegenwelt mit Wärmebildkamera

Die Aussenmauer des Stammlagers Auschwitz grenzt – auch das ist historische Realität – direkt an den aufwendig gepflegten Paradiesgarten der Familie Höss. Diese Mauer rückt immer wieder ins Bild, wie auch der aufsteigende beissende Rauch und auflodernde Feuer in der Nacht. Aber Glazer erlaubt keinen direkten Blick auf das Grauen hinter den mit Stacheldraht gesäumten Backsteinen. Vielmehr hat er mehrere Filme ineinander gedreht: Eine verstörende Tonspur transportiert die dräuende Lärmkulisse des Lagers, die auch im Garten und im Wohnhaus des Kommandanten fast ständig zu hören gewesen sein muss: Hundegebell, Schreie, Schüsse, Schläge, Befehlsfetzen, Undefinierbares.

Im Bild dazu sehen wir das hösssche Familienleben in seiner ganzen nationalsozialistischen Biederkeit und naturnahen Idylle. Gleichzeitig existiert die Familie in einer perversen Symbiose mit der fast ausgeblendet bleibenden und doch allzeit präsenten Mordfabrik nebenan. Hedwig wünscht sich von ihrem Mann Schokolade aus der Effektenraubkammer von Auschwitz. Die Kinder imitieren das KZ in ihren Spielen (dass Glazer einen der Buben im Bett mit Zähnen von Ermordeten spielen lässt, gehört zu den wenigen Entgleisungen des Films). Etwas besser gestellte Insassen arbeiten ums Haus und als Gärtner.

In seinem Büro beugt sich der KZ-Karrierist Höss mit einer Delegation der Firma Topf & Söhne über Pläne für einen neuen «Ringäscherungsofen». Mit ihm soll ein «Dauerbetrieb» möglich werden: deutsche Ingenieurskunst im Dienst der Vernichtungspolitik. Auch die Familie Höss profitiert direkt vom Holocaust, der ihr einen gesellschaftlichen Aufstieg ermöglicht: ein Herrenmenschenleben für die einstigen Landwirt:innen, die sich in einem bäuerlichen Blut-und-Boden-Bund kennengelernt hatten, der nach dem Krieg wiederbelebt wurde und bis heute Neonazis anzieht.

Zuerst rätselhaft ist eine weitere Ebene: Mit einer Wärmebildkamera aufgenommene Schwarzweissbilder zeigen ein Mädchen, das an Arbeitsstätten rund um das Lager Äpfel versteckt, dann verstohlen mit dem Fahrrad durch die Nacht nach Hause fährt. Einmal sehen wir das Kind auch bei Tageslicht, wie es am Klavier eine einfache Melodie spielt.

Die an fotografische Negative erinnernden Einschübe bergen eine Gegenwelt zur Täterperspektive. Das Mädchen ist einer realen Person nachempfunden, die Glazer als neunzigjährige Frau in der Gegend von Oświęcim traf. Sie war als Jugendliche im Widerstand aktiv gewesen, hatte einst tatsächlich Essen für KZ-Insassen versteckt – und einen Zettel mit einer Klavierkomposition gefunden.

Diese stammt von Joseph Wulf, einem Auschwitz-Überlebenden, der sich 1974 das Leben nahm: aus Verbitterung darüber, dass seine historische Expertise in Deutschland nicht anerkannt wurde; dass man ihn aufgrund seiner Opfererfahrung als voreingenommen abkanzelte. «Und die Massenmörder gehen frei herum und züchten Blumen», schrieb er kurz vor seinem Tod in einem Brief.

Einer, der Wulfs Forschung verhinderte, war der Historiker Martin Broszat, in dessen NS-Vergangenheit offenbar niemand ein Befangenheitsproblem sah. Broszat war Leiter des renommierten Münchner Instituts für Zeitgeschichte – und Herausgeber der «Autobiographischen Aufzeichnungen des Rudolf Höss». Er unterstellte auch weiteren jüdischen Historikern Voreingenommenheit – und trat für eine Historisierung des Holocaust ein. Angesichts von Glazers minutiöser Arbeit an allen Aspekten des Films sind all diese Verbindungslinien und Referenzen sicher kein Zufall.

Ein vergängliches Museum

Überhaupt: Wo immer man bei eigenen Recherchen zum Filmstoff landet, da war Glazer schon. Gewiss auch bei Tonaufnahmen von zwei Verhören, die online abrufbar sind: Rudolf Höss als auffallend auskunftsfreudiger und dienstfertiger Zeuge 1946 am Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg, ein Jahr bevor er selber zum Tod verurteilt wurde; Hedwig Höss, wortkarg, abweisend und strategisch vergesslich am ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess 1964.

Glazer hat sich in «The Zone of Interest» für einen anderen Schluss entschieden, einen anderen Sprung ins Dokumentarische. Er zeigt Aufnahmen aus dem Museum Auschwitz heute, wo das Reinigungspersonal Böden saugt und Scheiben putzt. Ein Sinnbild für Gedenkroutinen vielleicht, aber auch für die Vergänglichkeit physischer Überreste. Was wird bleiben?

Einzelne Kritiker:innen haben moniert, nur ein bereits informiertes Publikum könne «The Zone of Interest» verstehen. Doch sogar wer historisch wenig weiss, kann hier kaum auf falsche Fährten geraten. Und alle dürften das Märchen «Hänsel und Gretel», das Höss seinen Kindern vorliest, nun mit neuen Augen sehen.

«The Zone of Interest». Regie: Jonathan Glazer. Grossbritannien / USA / Polen 2023. Jetzt im Kino.