Von oben herab: Klappe
Stefan Gärtner über die Favoriten beim Schweizer Filmpreis
Diesen Freitag wird der Schweizer Filmpreis verliehen, und es ist natürlich eine durchaus banausische Idee, mich als externen Juror ohne Stimmrecht zu bestallen; nicht weil ich als Kindsvater bloss dreimal im Jahr ins Kino komme, sondern weil ich die nominierten Beiträge nur als Trailer kennenlerne. Allerschlimmster Schrumpfjournalismus, wenn Sie mich fragen; aber da in Deutschland das nationale Erwachen ja wenigstens mittelbar bevorsteht, habe ich keine Wahl und muss mein Devisenkonto füllen, damit ich als Emigrant wie einst Lenin in der Schweiz … (Hier ist ein Denkfehler versteckt. Wer ihn findet, darf sich freuen.)
Guet, also: «Amateur Teens» von Niklaus Hilber. Unter diesem vorbildlich doppelbödigen Titel geht es um Facebook-Teenies zwischen Mobbing (Internet), Wichsen (auch Internet), Drogen und Küssen. Das ist wahrscheinlich sehr authentisch; andererseits sind Pubertätsdramen so gut wie immer Kitsch, weil die zugrunde liegende Pubertät als klassisches «Gefüge von Invarianten» (Adorno) nun einmal Kitsch ist; und verzeichnet mein Archiv im Sommer 1993 eine Filmrezension fürs Heimatblatt, in der ich Jungesel Michael Hanekes Film «Bennys Video» – ein vernachlässigter Jugendlicher tötet ein Mädchen mit einem Bolzenschussgerät und nimmts eiskalt auf Video auf – für das Bild einer Gesellschaft belobigte, «deren Realitäts- und Unrechtsbewusstsein wie die Fähigkeit zur Kommunikation an einer unverarbeiteten Bilder- und Informationsflut zerbrochen ist». Damals meinte das noch VHS; heute ist es Youporn. Ich als alter Herr würde wahrscheinlich finden, dass ich das alles schon gesehen habe und überhaupt derart froh bin, die Pubertät überlebt zu haben, dass ich auf eine Wiederbegegnung mutatis mutandis gern verzichte.
Weiter: «Nichts passiert» von Micha Lewinsky. Familienprobleme in den (Schweizer) Bergen, aber Devid Striesow spielt mit, den mag ich, und Maren Eggert, die mein Bruder sehr verehrt. Ich müsste also mit meinem Bruder ins Kino gehen, aber der arbeitet sechzig Stunden die Woche und wohnt ganz woanders, da wird das wohl nichts. Ausserdem passiert einer Fünfzehnjährigen «etwas Schlimmes» (FAZ), und das ist ja auch so eine öde Mode, dass Kindern in Film und Fernsehen permanent Gewalt angetan wird; auch wenn in dieser Obsession eine Zukunftsangst zum Ausdruck kommt, die der sog. freien Welt als bester aller möglichen gar kein so gutes Zeugnis ausstellt.
In diese schwärende Wunde stösst dann «Heimatland», ein Film, in dem sich zehn Schweizer Regisseure und Regisseurinnen eine sehr grosse, sehr rätselhafte Wolke über einer sehr verängstigten Schweiz ausmalen. Das ist selbstredend unfassbar allegorisch (SVP usw.) und sei hier deshalb übergangen.
«La Vanité» von Lionel Baier dreht sich komödiantisch um Sterbetourismus, als dessen europäische Zentrale die Schweiz gelten muss, und also wird der Schweizer Filmpreis vermutlich an einen Film gehen, der sich nicht vor den ganz grossen Themen wie Jugend, neue Medien, Heimat und Tod drückt, und das ist gut; noch besser wäre nur gewesen, die Publikumsschlager «Heidi» und «Schellen-Ursli» zu nominieren, wo zwar Jugend und Heimat ebenfalls Hauptrollen spielen, aber mehr im Sinne einer guten alten Zeit ohne Antibiotika, Frauenwahlrecht und randalierende Neger. Da muss es hin.
Ich drücke allerdings «Köpek» von Esen Isik die Daumen. Worum es geht? Schwer zu sagen. Und deshalb bin ich schon dafür.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.